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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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zu sein. Diese Ehre fällt jetzt dir zu.«
    Da David darauf nichts sagte, fuhr der König fort.
    »Ich weiß, dass du dem Krummen Mann begegnet bist. Du solltest dich von seiner Erscheinung nicht abschrecken lassen. Er meint es gut, obwohl er dazu neigt, die Wahrheit zu… nun ja, sagen wir, zu manipulieren. Er hat über dich gewacht, seit du hier angekommen bist, und du hast es nur seinem Eingreifen zu verdanken, dass du so manche lebensgefährliche Situation unbeschadet überstanden hast. Ich weiß auch, dass er dir zu Anfang angeboten hat, dich nach Hause zurückzubringen, aber das war eine Lüge. Es steht nicht in seiner Macht, das zu tun, solange du nicht König bist. Sobald du deinen rechtmäßigen Platz eingenommen hast, kannst du ihm alles befehlen, was du willst. Wenn du den Thron jedoch zurückweist, wird er dich töten und einen anderen suchen. So ist es immer gewesen.
    Du musst annehmen, was dir geboten wird. Wenn es dir nicht gefällt oder du feststellst, dass das Herrschen dir nicht liegt, kannst du dem Krummen Mann befehlen, dich in deine eigene Welt zurückzubringen, und damit ist die Abmachung beendet. Schließlich bist du dann der König, und er ist nur ein einfacher Untertan. Er möchte nur, dass dein Bruder mitkommt, damit du in dieser neuen Welt Gesellschaft hast, wenn du deine Herrschaft antrittst. Später wird er vielleicht sogar deinen Vater hierher bringen, wenn du es möchtest. Was meinst du, wie stolz dein Vater sein wird, seinen Erstgeborenen auf dem Thron zu sehen, als Herrscher über ein großes Reich! Nun, was sagst du dazu?«
    Als der König geendet hatte, war auch das letzte bisschen Mitleid, das David für ihn empfunden haben mochte, verschwunden. Alles, was der König gesagt hatte, war gelogen. Er konnte nicht wissen, dass David in das Buch der verlorenen Dinge hineingeschaut hatte, dass er im Versteck des Krummen Mannes gewesen war und dort Anna gefunden hatte. David hingegen wusste, dass tief unten in der Dunkelheit Herzen gegessen und die Geister von Kindern in Gläsern eingesperrt wurden, um das Leben des Krummen Mannes zu nähren. Der König, gequält von Schuldgefühlen und Reue, wollte aus seinem Handel mit dem Krummen Mann entlassen werden, und er war zu allem bereit, solange David nur den Thron bestieg.
    »Ist das da in Euren Händen das Buch der verlorenen Dinge?«, fragte David. »Es heißt, es enthielte alles nur erdenkliche Wissen, vielleicht sogar Zauberkräfte. Stimmt das?«
    Die Augen des Königs funkelten. »Oh ja, ganz recht. Ich werde es dir geben, wenn ich abdanke und die Krone an dich übergebe. Es wird mein Krönungsgeschenk. Damit kannst du dem Krummen Mann deinen Willen befehlen, und er muss dir gehorchen. Wenn du König bist, brauche ich es nicht mehr.«
    Einen Moment lag fast so etwas wie Bedauern auf dem Gesicht des Königs. Wieder glitten seine Finger über den Einband des Buches, strichen lose Fäden glatt und betasteten die Stellen, wo der Rücken sich zu lösen begonnen hatte. Es war für ihn wie ein lebendes Wesen, als wäre auch ihm das Herz aus dem Körper genommen worden, als er in dieses Land kam, und hätte die Form eines Buches angenommen.
    »Und was wird aus Euch, wenn ich König bin?«, fragte David.
    Der König wandte den Blick ab, bevor er antwortete. »Oh, ich werde mich an einen ruhigen Ort zurückziehen, wo ich meinen Ruhestand genießen kann«, sagte er. »Vielleicht werde ich sogar in unsere Welt zurückkehren, um zu sehen, was sich dort in der Zwischenzeit verändert hat.«
    Doch seine Worte klangen hohl, und seine Stimme ächzte unter der Last seiner Schuldgefühle und Lügen.
    »Ich weiß, wer du bist«, sagte David leise.
    Der König beugte sich auf seinem Thron vor. »Was hast du gesagt?«
    »Ich weiß, wer du bist«, wiederholte David. »Du bist Jonathan Tulvey. Du hattest eine Adoptivschwester namens Anna. Du warst eifersüchtig auf sie, als sie zu euch ins Haus kam, und diese Eifersucht hat dich nie wieder losgelassen. Dann kam der Krumme Mann und lockte dich mit der Aussicht auf ein Leben ohne sie, und du hast sie verraten. Du hast sie mit einem Trick dazu gebracht, dir durch den Spalt im Senkgarten hierher zu folgen. Der Krumme Mann hat sie getötet, ihr Herz gegessen und ihren Geist in ein Glas gesperrt. Das Buch auf deinem Schoß besitzt keine Zauberkräfte, und die einzigen Geheimnisse, die es enthält, sind deine eigenen. Du bist ein trauriger, böser alter Mann, und du kannst dein Königreich und deinen Thron behalten.

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