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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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könnten beizeiten von den Soldaten des neuen Königs erlegt werden.
    Der neue König! Die Erinnerung daran, was er ursprünglich vorgehabt hatte, brachte den Krummen Mann wieder zu Verstand – gerade noch zur rechten Zeit, denn hinter Leroi waren weitere Loups und Wölfe aufgetaucht, und ein Trupp Weißer hatte sich von der anderen Seite angepirscht. Einen Augenblick rührte sich nichts, während die Wölfe ihren übelsten Feind anstarrten, der neben ihrer sterbenden Schwester stand. Dann schwenkte der Krumme Mann mit einem Triumphschrei seinen blutigen Dolch durch die Luft und rannte davon. Sofort machten die Wölfe sich an die Verfolgung, stürmten zwischen den Bäumen hindurch, die Augen funkelnd vor Jagdlust. Ein weißer Wolf, schlanker und schneller als der Rest, löste sich aus dem Rudel und versuchte, dem Krummen Mann den Weg abzuschneiden. An der Stelle fiel der Boden steil ab, sodass der Wolf etwa drei Meter über ihm war, als er die Hinterläufe anspannte und durch die Luft sprang, die Zähne gefletscht, um seiner Beute die Kehle zu zerfleischen. Doch der Krumme Mann war zu gerissen für ihn. Während das Tier auf ihn zusprang, wirbelte er herum, den Dolch über den Kopf erhoben, und schlitzte den Wolf von unten auf. Er fiel tot zu Boden, und der Krumme Mann lief weiter. Noch zehn Meter, noch acht, noch fünf. Er sah den Tunneleingang bereits vor sich, zu erkennen an der aufgewühlten Erde und dem schmutzigen Schnee. Er hatte ihn fast erreicht, als er zu seiner Linken plötzlich etwas Rotes aufblitzen sah und das Zischen einer Klinge vernahm, die durch die Luft fuhr. Gerade noch rechtzeitig riss er seinen Dolch hoch, um Lerois Säbel zu parieren, aber der Loup war stärker, als er gedacht hatte, und der Krumme Mann verlor das Gleichgewicht und wäre um ein Haar zu Boden gestürzt. Damit wäre alles zu Ende gewesen, denn Leroi holte bereits zum Todesstoß aus. So schlitzte die Klinge lediglich den Ärmel des Krummen Mannes auf, doch dieser tat, als hätte Leroi ihn schwer verletzt. Er ließ den Dolch fallen und taumelte rückwärts, die Hand auf die vermeintliche Wunde an seinem rechten Arm gepresst. Die Wölfe scharten sich um die beiden, verfolgten den Zweikampf und feuerten Leroi mit wildem Geheul an, die Sache zu Ende zu bringen. Leroi hob den Kopf und brachte sie mit einem kurzen Knurren zum Schweigen.
    »Du hast einen fatalen Fehler begangen«, sagte Leroi. »Du hättest hinter den Burgmauern bleiben sollen. Irgendwann werden wir sie ohnehin durchbrechen, aber so hättest du noch ein wenig länger in ihrem Schutz leben können.«
    Der Krumme Mann lachte Leroi ins Gesicht, das mittlerweile bis auf ein paar borstige Haare und die Andeutung einer Schnauze nahezu menschlich aussah.
    »Nein, wenn hier jemand einen Fehler begangen hat, dann bist du es«, sagte er. »Sieh dich an. Du bist weder Mensch noch Tier, sondern eine armselige Kreatur, die beiden unterlegen ist. Du verabscheust das, was du bist, und willst etwas werden, das du niemals sein kannst. Dein Äußeres kannst du verändern, du kannst all die feinen Kleider tragen, die du deinen Opfern stiehlst, aber in deinem Innern wirst du immer ein Wolf bleiben. Und was glaubst du, was passieren wird, wenn deine Verwandlung vollkommen ist, wenn du wirklich so aussiehst wie die, die du einst gejagt hast? Das Rudel wird einen Menschen vor sich sehen und dich nicht mehr als einen der Ihren akzeptieren. Das, was du dir am meisten ersehnst, wird dein Untergang sein, denn sie werden dich zerreißen, und du wirst zwischen ihren Fängen sterben, so wie andere in deinen Fängen gestorben sind. Und bis dahin, Halbblut, sage ich… leb wohl!«
    Und damit sprang er mit den Füßen zuerst in den Eingang des Tunnels und war verschwunden. Leroi brauchte einen Moment, bis er begriff, was geschehen war. Er öffnete den Mund, um ein Zorngeheul auszustoßen, doch der Ton, der herauskam, klang eher wie ein ersticktes Röcheln. Es war genau, wie der Krumme Mann gesagt hatte: Lerois Verwandlung war nahezu vollendet, und anstelle seiner Wolfsstimme besaß er jetzt eine Menschenstimme. Um seine Überraschung zu verbergen, gab Leroi zweien seiner Kundschafter ein Zeichen, den Eingang des Tunnels zu untersuchen. Die beiden schnüffelten misstrauisch an der aufgewühlten Erde, dann steckte einer von ihnen kurz den Kopf hinein, zog ihn jedoch sofort wieder heraus, für den Fall, dass der Krumme Mann dort unten lauerte. Als nichts geschah, wagte er sich ein zweites Mal vor und

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