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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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getarnt, und obgleich etliche von ihnen ebenfalls gefallen waren, hatten es einige geschafft, an die Mauer heranzukommen und sie schnüffelnd und grabend auf einen verborgenen Eingang zu untersuchen. Doch diejenigen, die lebend zurückgekommen waren, hatten bestätigt, dass die Burg so uneinnehmbar war, wie sie aussah.
    Der Krumme Mann war nahe genug, um die Stimmen der Loups zu hören und den stechenden Geruch ihres Fells zu riechen. Törichte, eitle Kreaturen, dachte er. Auch wenn ihr euch wie Menschen kleidet und deren Gewohnheiten annehmt, werdet ihr immer nach Wolf stinken und Tiere bleiben, die so tun, als wären sie etwas Besseres. Der Krumme Mann hasste sie, und er hasste Jonathan dafür, dass er sie durch seine Fantasie, durch seine Abwandlung der Geschichte von dem Mädchen mit der roten Samtkappe hatte entstehen lassen. Alarmiert hatte der Krumme Mann beobachtet, wie sie sich zu verändern begannen. Anfangs hatte er es fast noch amüsant gefunden, wie sie knurrend und bellend wortähnliche Laute ausstießen oder mit den Vorderpfoten in der Luft ruderten, wenn sie versuchten, wie die Menschen zu gehen. Doch dann hatten sich ihre Gesichter zusehends verwandelt, und ihre ohnehin wache Intelligenz war noch schärfer geworden. Er hatte versucht, Jonathan dazu zu überreden, sämtliche Wölfe im Land töten zu lassen, doch der König hatte zu spät reagiert. Die ersten Soldaten, die er losschickte, um sie zu erlegen, waren ihrerseits getötet worden, und die Menschen draußen im Land hatten zu viel Angst vor dieser neuen Bedrohung, um irgendetwas anderes zu tun als die Schutzmauern um ihre Dörfer zu verstärken und nachts die Türen und Fenster zu verschließen. Und jetzt war es so weit gekommen, dass eine Armee von Wölfen, angeführt von Wesen, die halb Mensch und halb Tier waren, die Burg des Königs belagerte und die Herrschaft an sich reißen wollte.
    »Nur zu«, murmelte der Krumme Mann vor sich hin. »Wenn ihr den König wollt, dann holt ihn euch. Ich bin fertig mit ihm.«
    Er zog sich zurück und schlug einen Bogen um die Generäle, bis er zu einer Wölfin kam, die als Wachposten eingeteilt war. Er achtete sorgfältig darauf, in welche Richtung die aufgewirbelten Schneeflocken flogen, um in ihrem Windschatten zu bleiben. Sie bemerkte ihn erst, als er fast bei ihr war, und da war es bereits zu spät. Der Krumme Mann sprang auf sie zu, den Dolch gezückt, und sobald er auf dem Rücken der Wölfin gelandet war, grub er die Klinge in ihr Fell und das Fleisch darunter. Die langen Finger seiner anderen Hand hielten ihr die Schnauze zu, damit sie kein Geheul ausstoßen konnte, noch nicht.
    Natürlich hätte er sie töten und ihr die Schnauze für seine Sammlung abschneiden können, aber das tat er nicht. Stattdessen bohrte er die Klinge so tief in ihren Körper hinein, dass sie zu Boden fiel und der Schnee um sie herum sich rot färbte. Dann ließ er ihre Schnauze los, und die Wölfin begann zu winseln und zu heulen, um das übrige Rudel auf ihre Pein aufmerksam zu machen. Dies, so wusste der Krumme Mann, war der gefährlichste Teil, noch riskanter als der Angriff auf die kräftige Wölfin. Er wollte, dass sie ihn sahen, aber sie durften nicht nahe genug herankommen, um ihn zu erwischen. Plötzlich tauchten auf einer Hügelkuppe vier riesige Graue auf und schlugen ein Warngeheul an. Hinter ihnen folgte einer der verhassten Loups, in die beste Uniform gekleidet, die er hatte auftreiben können: eine leuchtend rote Jacke mit goldenen Tressen und Knöpfen und eine weiße Hose, die nur wenige Blutflecken ihres früheren Besitzers aufwies. An einem schwarzen Ledergürtel trug er einen langen Säbel, den er sofort zog, als er die sterbende Wölfin und das Wesen, das für ihre Qual verantwortlich war, erblickte.
    Es war Leroi, der Wolfsmensch, der König sein wollte, der Verhassteste und Gefürchtetste unter den Loups. Der Krumme Mann zögerte. Die Nähe seines größten Feindes war verlockend, und obgleich er sehr alt war und geschwächt von Annas verlöschendem Licht und den dahinrieselnden Sandkörnern seines Lebens, war der Krumme Mann immer noch schnell und stark. Er war sicher, dass er die vier Grauen töten konnte, und dann hätte Leroi nur noch seinen erbeuteten Säbel, um sich zu verteidigen. Wenn der Krumme Mann Leroi tötete, würden die Wölfe sich zerstreuen, denn die Armee wurde nur von seinem eisernen Willen zusammengehalten. Selbst die anderen Loups waren nicht so weit fortgeschritten wie er und

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