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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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irgendwann wiederkommen?«, fragte er, und darauf gab der Förster eine sehr merkwürdige Antwort.
    »Die meisten Leute kommen am Ende wieder«, sagte er.
    Er hob die Hand zum Abschied, und David holte tief Luft und trat in den hohlen Baumstamm.
    Anfangs roch er nur Moder und Erde und altes Laub. Er streckte die Hand aus und strich über die raue Innenseite der Rinde. Obgleich der Baum riesig war, konnte er nur wenige Schritte gehen, dann stand er vor einer Art Wand. Die Stelle, wo der Krumme Mann ihm die Fingernägel in den Arm gegraben hatte, tat immer noch weh. Er fühlte sich eingesperrt. Nirgends war ein Weg nach draußen zu erkennen, aber der Förster hätte ihn niemals angelogen. Nein, wahrscheinlich hatte er sich einfach vertan. David beschloss, wieder hinauszutreten, doch als er sich umwandte, war der Eingang verschwunden. Der Baum hatte sich vollständig geschlossen, und nun war er darin gefangen. David begann, um Hilfe zu rufen und mit den Fäusten gegen das Holz zu schlagen, doch seine Rufe hallten nur hohl im Innern des Stammes wider, als wollten sie ihn verhöhnen.
    Doch dann war da plötzlich ein Licht. Es schien von oben zu kommen. David legte den Kopf in den Nacken und sah etwas wie einen Stern funkeln. Es wurde immer größer und kam von oben auf ihn zu. Oder vielleicht schwebte er dem Licht auch entgegen, es war schwer zu sagen, denn all seine Sinne waren verwirrt. Er hörte ungewohnte Geräusche – Metall auf Metall, das Quietschen von Rädern –, und ein stechender, chemischer Geruch stieg ihm in die Nase. Er sah Dinge – das Licht, die Vertiefungen und Risse des Baumstamms –, doch nach und nach wurde ihm bewusst, dass er die Augen geschlossen hatte. Wenn das stimmte, wie viel würde er dann erst sehen können, wenn er die Augen öffnete?
    Und so öffnete David die Augen.
    Er lag in einem Bett mit Metallrahmen, in einem Raum, den er nicht kannte. Zwei große Fenster gingen auf eine Rasenfläche hinaus, auf der Kinder an der Hand von Krankenschwestern spazieren gingen oder von weiß gekleideten Pflegerinnen in Rollstühlen umhergeschoben wurden. Neben seinem Bett stand ein Blumenstrauß. In seinem rechten Unterarm steckte eine Nadel mit einem Schlauch, der zu einer Flasche an einem Metallständer führte. Sein Kopf fühlte sich seltsam eingezwängt an. Er hob die Hand, und seine Finger berührten statt der Haare einen Verband. Vorsichtig drehte er sich nach links. Sofort fuhr ihm ein Schmerz in den Nacken, und sein Kopf begann zu pochen. Neben ihm, schlafend auf dem Stuhl zusammengesunken, saß Rose. Ihre Kleider waren zerknittert, und das Haar wirkte strähnig und ungewaschen. Auf ihrem Schoß lag ein Buch mit einem roten Band als Lesezeichen.
    David versuchte zu sprechen, doch seine Kehle war ganz ausgetrocknet. Als er es erneut versuchte, kam nur ein heiseres Krächzen heraus. Langsam öffnete Rose die Augen und starrte ihn ungläubig an.
    »David?«, sagte sie.
    Er brachte immer noch kein Wort heraus. Rose schenkte ihm aus einem Krug ein Glas Wasser ein, hob es an seine Lippen und stützte dabei seinen Kopf, damit er leichter trinken konnte. David sah, dass sie weinte. Ein paar von ihren Tränen tropften auf sein Gesicht, als sie das Glas wegnahm, und er schmeckte ihr Salz.
    »Oh David«, flüsterte sie. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht.«
    Sanft strich sie ihm mit der Hand über die Wange. Sie hörte nicht auf zu weinen, aber er sah, dass sie trotz der Tränen glücklich war.
    »Rose«, sagte David.
    Sie beugte sich vor. »Ja, David, was ist?«
    Er ergriff ihre Hand.
    »Es tut mir leid«, sagte er.
    Und dann sank er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

33
    Von allem, was verloren, und allem,
    was gefunden wurde
     
     
     
    In den folgenden Tagen sprach Davids Vater oft davon, wie wenig gefehlt hätte, und David wäre ihnen für immer genommen worden. Er erzählte David, wie sie ihn nach dem Flugzeugabsturz nirgends finden konnten; wie sie erst geglaubt hatten, er sei zusammen mit dem Wrack verbrannt, dann, als sie keine Spur von ihm fanden, jemand hätte ihn entführt; wie sie das ganze Haus und den Garten nach ihm abgesucht hatten, schließlich sogar die umliegenden Felder, unterstützt von Freunden, von der Polizei, ja sogar von Fremden, die zufällig vorbeikamen und von Mitgefühl erfasst wurden; wie sie in sein Zimmer zurückgekehrt waren, in der Hoffnung, dort einen Hinweis darauf zu finden, wohin er gegangen sein mochte; wie sie schließlich den Hohlraum hinter der Mauer des

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