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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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verraten, und das nach allem, was ich getan habe, nach allem, wozu du mich gezwungen hast.«
    »Ich habe dich zu gar nichts gezwungen, Jonathan«, erwiderte der Krumme Mann. »Du hast es getan, weil du es wolltest. Niemand kann dich dazu zwingen, etwas Böses zu tun. Du hattest das Böse in dir, und du hast ihm nachgegeben. Die Menschen werden ihm immer nachgeben.«
    Er stach mit seiner eigenen Klinge nach dem König, sodass der alte Mann strauchelte und beinahe gestürzt wäre. Blitzschnell wollte der Krumme Mann nach David greifen, doch der Junge wich zurück und hieb dem Krummen Mann mit dem Schwert eine Wunde in die Brust, die stank, aber nicht blutete.
    »Du wirst sterben!«, schrie der Krumme Mann. »Sag mir den Namen, und dir passiert nichts.«
    Er bewegte sich auf David zu, ohne seine Verletzung zu beachten. David holte erneut aus, doch der Krumme Mann wich zur Seite, sprang auf den Jungen zu und grub ihm seine Fingernägel tief in den Arm. David fühlte sich, als wäre er vergiftet worden, denn Schmerz breitete sich in seinem Arm aus, strömte durch seine Adern und vereiste sein Blut, bis er die Hand erreichte und David das Schwert aus den betäubten Fingern glitt. Er konnte nicht mehr ausweichen, war umzingelt von kämpfenden Männern und knurrenden Wölfen. Über die Schulter des Krummen Mannes hinweg sah er, wie Leroi auf den König zuging. Der König versuchte, mit der Klinge auf ihn einzustechen, doch Leroi schlug sie ihm aus der Hand, und sie schlitterte über den Steinboden.
    »Den Namen!«, kreischte der Krumme Mann. »Den Namen, oder ich überlasse dich den Wölfen.«
    Leroi packte den König, als wäre er eine Puppe, und bog seinen Kopf nach hinten, sodass die Kehle bloß lag. Er hielt kurz inne und sah zu David hinüber. »Du bist als Nächster dran«, sagte er mit hämischem Grinsen. Dann öffnete er weit den Mund, hieb die spitzen, weißen Zähne in die Kehle des Königs und schüttelte ihn unerbittlich hin und her. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen sah der Krumme Mann zu, wie das Leben des Königs versiegte. Ein großes Stück Haut löste sich vom Gesicht des Tricksers wie eine alte Tapete und entblößte das graue, verwesende Fleisch darunter.
    »Nein!«, schrie er und packte David am Kragen. »Den Namen. Du musst ihn mir sagen, sonst sind wir beide verloren.«
    David hatte schreckliche Angst, denn er wusste, diesmal würde er sterben.
    »Sein Name ist…«, begann er.
    »Ja!«, jubelte der Krumme Mann. »Sages!«
    Der König stieß einen letzten, gurgelnden Atemzug aus, dann stieß Leroi den Sterbenden weg, wischte sich das Blut des alten Mannes vom Mund und ging auf David zu.
    »Sein Name ist…«
    »Jetzt sag schon!«, kreischte der Krumme Mann.
    »Sein Name ist ›Bruder‹«, sagte David.
    Verzweifelt sackte der Krumme Mann in sich zusammen. »Nein«, stöhnte er. »Nein.«
    Tief unten in den Eingeweiden der Burg rieselten die letzten Sandkörner durch den Hals des Stundenglases, und hoch oben auf einem Fenstervorsprung leuchtete der Geist eines Mädchens kurz auf und verlosch dann gänzlich. Wäre jemand in der Nähe gewesen, als es geschah, hätte er gehört, wie sie einen leisen Seufzer der Erleichterung und des Friedens ausstieß, denn ihre Qual hatte nun ein Ende.
    »Nein!«, heulte der Krumme Mann, während seine Haut aufplatzte und stinkende Gase hervorbrachen. Alles war verloren, alles. Nach unermesslichen Zeiten und ungezählten Geschichten war sein Leben nun zu Ende. Da packte ihn eine solche Wut, dass er die Fingernägel in den eigenen Kopf grub, durch Haar und Haut und Knochen, und wie besessen daran zerrte. Ein tiefer Riss erschien in seiner Stirn, der sich schnell über den Nasenrücken ausbreitete und dann seinen Mund spaltete. In jeder Hand hielt er jetzt eine Kopfhälfte mit je einem wild rollenden Auge, und doch zog er weiter, sodass der gewaltige Riss sich fortsetzte, durch Hals und Brust und Bauch, bis er bei den Schenkeln ankam und der Körper endgültig in zwei Teilen zu Boden fiel. Aus den beiden Hälften des Krummen Mannes krochen Scharen von widerlichem Getier, Wanzen und Käfer und Tausendfüßler, Spinnen und bleiche Würmer, und alle wimmelten und krabbelten und schlängelten sich über den Boden, bis auch sie reglos liegen blieben, als das letzte Sandkorn durch den Hals des Stundenglases fiel und der Krumme Mann starb.
    Leroi betrachtete grinsend die Überreste. David wollte gerade die Augen schließen, um sich auf seinen Tod vorzubereiten, da fuhr

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