Das Buch der verlorenen Dinge
David schien das alles nichts zu tun zu haben. Schließlich passierte es ja nicht gerade bei ihm vor der Haustür. In London nahmen die Leute Teile von abgestürzten deutschen Flugzeugen als Souvenir mit nach Hause, obwohl es verboten war, sich den Wracks zu nähern. Hier hingegen war alles sehr ruhig, obwohl sie kaum fünfzig Meilen von London entfernt waren.
Sein Vater faltete den Daily Express zusammen und legte ihn neben seinen Teller. Die Zeitung war dünner als früher, nur noch sechs Seiten. Davids Vater sagte, das läge daran, dass jetzt auch das Papier rationiert sei. Die Magnet- Comics wurden seit Juli nicht mehr gedruckt, sodass David auf Billy Bunters Abenteuer verzichten musste, aber immerhin gab es noch jeden Monat die Zeitschrift Boy’s Own, die David sorgfältig neben seinen Sammelbänden über die Flugzeugtypen der Kampfmächte einsortierte.
»Musst du auch in den Krieg ziehen?«, fragte David seinen Vater, nachdem sie mit dem Essen fertig waren.
»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte sein Vater. »Dort, wo ich jetzt bin, nütze ich unserem Land mehr.«
»Streng geheim«, sagte David.
Sein Vater lächelte ihm zu.
»Ja, streng geheim«, sagte er.
David fand die Vorstellung immer noch aufregend, dass sein Vater womöglich ein Spion war oder zumindest mit Spionen zu tun hatte. Bisher war dies das einzig Spannende am Krieg.
In der Nacht lag David in seinem Bett und betrachtete das Mondlicht, das zum Fenster hereinschien. Der Himmel war klar, und der Mond leuchtete sehr hell. Nach einer Weile fielen ihm die Augen zu, und er träumte von Wölfen und kleinen Mädchen und einem alten König in einer verfallenen Burg, der auf seinem Thron saß und schlief. An der Burg liefen Eisenbahngleise vorbei, und durch das hohe Gras, das daneben wuchs, huschten Gestalten: ein Junge und ein Mädchen und der Krumme Mann. Sie verschwanden unter der Erde, und David roch Weingummi und Pfefferminzbonbons, und er hörte ein kleines Mädchen weinen, bevor ihre Stimme vom Herannahen eines Zuges übertönt wurde.
5
Von Eindringlingen und Verwandlungen
Anfang September erschien der Krumme Mann erstmals in Davids Welt.
Es war ein langer, angespannter Sommer gewesen. Sein Vater verbrachte mehr Zeit an seinem Arbeitsplatz als zu Hause, und manchmal schlief er zwei Nächte hintereinander nicht in seinem eigenen Bett. Sobald die Dunkelheit hereinbrach, wurde es für ihn ohnehin schwierig, nach Hause zurückzufinden. Sämtliche Straßenschilder waren entfernt worden, um die Deutschen zu verwirren, falls sie in England einmarschierten, und Davids Vater hatte sich selbst bei Tageslicht auf dem Heimweg mehr als einmal verfahren. Wo mochte er da landen, wenn er es im Dunkeln und ohne Scheinwerfer versuchte?
Rose hatte Schwierigkeiten, sich an ihre Rolle als Mutter zu gewöhnen. David fragte sich, ob es seiner Mutter ebenso schwergefallen war und ob er genauso anstrengend gewesen war wie Georgie. Er hoffte nicht. Angesichts der angespannten Situation hatte Roses Nachsicht gegenüber Davids Launen rapide abgenommen. Mittlerweile sprachen sie kaum noch miteinander, und David spürte, dass die Geduld seines Vaters mit ihnen beiden nahezu erschöpft war. Am Tag zuvor war ihm beim Abendessen der Kragen geplatzt, als Rose eine harmlose Bemerkung von David als Beleidigung aufgefasst und die beiden angefangen hatten, sich zu zanken.
»Warum könnt ihr zwei euch nicht endlich vertragen, Herrgott noch mal!«, hatte sein Vater gebrüllt. »Dafür komme ich doch nicht nach Hause. Gemecker und Streitereien kriege ich auch bei der Arbeit, und zwar mehr als genug.«
Georgie, der in seinem Kinderstuhl am Tisch saß, fing an zu weinen.
»Jetzt sieh dir an, was du getan hast«, sagte Rose. Sie warf ihre Serviette auf den Tisch und ging zu Georgie.
Davids Vater vergrub das Gesicht in den Händen.
»Es ist also alles meine Schuld«, sagte er.
»Nun, meine ist es jedenfalls nicht«, entgegnete Rose.
Beide sahen gleichzeitig zu David hinüber.
»Jetzt soll ich es gewesen sein, oder was?«, sagte David. »Schön, wie ihr meint!«
Wütend ließ er seinen halb vollen Teller stehen und stapfte aus dem Zimmer. Er war noch hungrig, aber der Eintopf bestand ohnehin nur aus Gemüse und ein paar billigen, zähen Würstchenstücken darin, damit es nicht ganz so fade schmeckte. Er wusste, dass er den Rest morgen wieder vorgesetzt bekommen würde, aber es war ihm egal. Aufgewärmt schmeckte es auch nicht schlimmer als jetzt. Als er
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