Das Buch der verlorenen Dinge
und es waren keine normalen Wölfe. Weil sie aus den Geschichten kamen, die er las, konnten sie sprechen. Sie waren intelligent und gefährlich. Die Albträume waren so schlimm, dass mein Großvater ihm die Bücher wegnahm, aber Jonathan war todunglücklich ohne sie, und so gab mein Großvater sie ihm letzten Endes immer wieder zurück. Einige von den Büchern sind sehr alt. Sie waren schon alt, als sie Jonathan gehörten. Ich nehme an, ein paar von ihnen wären sogar recht wertvoll, wenn nicht jemand vor langer Zeit hineingeschrieben hätte. Es sind Bilder und Geschichten darin, die nicht dort hineingehören. Mein Großvater meinte, sie stammten vielleicht von dem Mann, der ihm die Bücher verkauft hatte. Es war ein Buchhändler in London, ein seltsamer Mann. Er verkaufte eine Menge Kinderbücher, obwohl ich nicht den Eindruck hatte, dass er Kinder mochte. Ich glaube, es gefiel ihm nur, ihnen Angst einzujagen.«
Rose blickte jetzt aus dem Fenster, versunken in die Erinnerung an ihren Großvater und ihren geheimnisvollen Onkel.
»Nachdem Jonathan und Anna verschwunden waren, ging mein Großvater noch einmal zu dem Buchladen. Er dachte wohl, dass dort Leute hinkamen, die selbst Kinder hatten, und dass sie oder die Kinder vielleicht etwas über die beiden Verschwundenen gehört hatten. Doch als er zu der Straße kam, stellte er fest, dass der Buchladen verschwunden war. Das Haus war mit Brettern vernagelt, es gab niemanden mehr, der dort wohnte oder arbeitete, und es konnte ihm auch niemand sagen, was aus dem kleinen Mann geworden war, dem der Laden gehört hatte. Vielleicht war er gestorben. Er war sehr alt, sagte mein Großvater. Sehr alt und sehr seltsam.«
Ein Klingeln an der Tür unterbrach die harmonische Stimmung zwischen David und Rose. Es war der Briefträger, und Rose ging hinaus, um die Post entgegenzunehmen. Als sie zurückkam, fragte sie David, ob er etwas essen wolle, doch er lehnte ab. Er ärgerte sich bereits, dass er Rose gegenüber eingelenkt hatte, auch wenn er dadurch einiges erfahren hatte. Sie sollte nicht glauben, dass zwischen ihnen jetzt alles gut war, denn das war es nicht, ganz und gar nicht. Und so ließ er sie in der Küche stehen und ging wieder hinauf in sein Zimmer.
Auf dem Weg dorthin schaute er bei Georgie hinein. Der Kleine lag tief und fest schlafend in seinem Bettchen, der große Gashelm und der Blasebalg, um Luft hineinzupumpen, in Griffweite daneben. Es war nicht seine Schuld, dass er hier war, sagte sich David. Er hatte nicht darum gebeten, auf die Welt zu kommen. Dennoch konnte David sich nicht dazu aufraffen, ihn zu mögen, und es versetzte ihm jedes Mal einen Stich, wenn er sah, wie sein Vater den Neuankömmling auf dem Arm hielt. Georgie war wie ein Symbol für all das, was schiefgelaufen war, für all das, was sich verändert hatte. Nach dem Tod seiner Mutter hatte es nur noch David und seinen Vater gegeben, und sie waren einander nähergekommen, weil sie nur noch einander hatten. Jetzt hatte sein Vater auch noch Rose und einen neuen Sohn. Aber David hatte niemanden sonst. Er war ganz allein.
David verließ Georgie und kehrte in sein Zimmer unter dem Dach zurück, wo er den restlichen Nachmittag damit verbrachte, in Jonathan Tulveys alten Büchern zu blättern. Er saß auf dem Fenstersitz und dachte daran, dass Jonathan einst auch dort gesessen hatte. Er war durch den gleichen Flur gegangen, hatte in der gleichen Küche gegessen, im gleichen Wohnzimmer gespielt und sogar im gleichen Bett geschlafen wie David. Vielleicht tat er das in einer anderen, längst vergangenen Zeit immer noch, und David und Jonathan bewegten sich jetzt im gleichen Raum, aber in verschiedenen Zeitebenen, sodass Jonathan wie ein unsichtbarer Geist an Davids Welt teilhatte, womöglich sogar zusammen mit ihm im Bett lag. Bei der Vorstellung gruselte es David, aber gleichzeitig gefiel ihm der Gedanke, dass zwei Jungen, die einander so ähnlich waren, vielleicht auf diese Weise miteinander verbunden waren.
Er fragte sich, was wohl mit Jonathan und der kleinen Anna geschehen war. Vielleicht waren sie weggelaufen, obwohl David alt genug war, um zu begreifen, dass es einen großen Unterschied gab zwischen dem Weglaufen in Büchern und dem, was einen vierzehnjährigen Jungen und ein siebenjähriges Mädchen in der Wirklichkeit erwartete. Wenn sie tatsächlich weggelaufen wären, hätte es nicht lange gedauert, bis sie hungrig und müde geworden wären und ihren Entschluss bedauert hätten. Davids Vater
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