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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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Märchen, die Hans zu dem Riesen geführt hatte, schien das Efeu genau zu wissen, wohin es wollte.
    Und dann bewegte sich etwas in Davids Zimmer. Er sah eine Gestalt hinter der Scheibe, in Waldgrün gekleidet. Einen Moment dachte er, es müsse Rose sein, oder vielleicht Mrs. Briggs. Doch dann erinnerte David sich, dass Mrs. Briggs ins Dorf gegangen war, und Rose betrat sein Zimmer so gut wie nie, und wenn, dann fragte sie ihn vorher um Erlaubnis. Sein Vater konnte es auch nicht sein. Dazu passten weder die Größe noch die Form der Gestalt. Genau genommen sah dieses Wesen überhaupt sehr merkwürdig aus, fand David. Es war leicht gebeugt, als wäre es schon so daran gewöhnt, verstohlen herumzuschleichen, dass der Körper sich verformt hatte. Der Rücken war zu einem Buckel gewölbt, die Arme sahen aus wie knorrige Äste, und die Finger waren wie Krallen gekrümmt, bereit, blitzschnell zuzupacken. Außerdem hatte es eine schmale, hakenförmige Nase und trug einen krummen Hut auf dem Kopf. Es verschwand kurz, dann tauchte es wieder auf, mit einem von Davids Büchern in der Hand. Das Wesen blätterte darin, dann schien es etwas zu finden, das es interessierte; es hielt inne und begann zu lesen.
    Plötzlich hörte David Georgie in seinem Kinderzimmer schreien. Das Wesen ließ das Buch fallen und lauschte. David sah, wie es die krallenartigen Finger hob, als hinge Georgie vor ihm wie ein reifer Apfel, den man nur noch zu pflücken brauchte. Es schien zu überlegen, was es als Nächstes tun sollte. David sah, wie es die linke Hand hob und damit langsam über sein spitzes Kinn strich. Während es nachdachte, blickte es zum Fenster und hinunter auf den Wald. Als es David bemerkte, erstarrte es und duckte sich dann hastig, doch in dem kurzen Moment sah David kohlschwarze Augen in einem bleichen Gesicht, das so lang und schmal war, als wäre es auf der Streckbank in die Länge gezogen worden. Der Mund war sehr breit, und die Lippen waren ganz dunkel, wie alter, saurer Wein.
    David rannte ins Haus. Er stürmte in die Küche, wo sein Vater die Zeitung las. »Papa, da ist jemand in meinem Zimmer!«, rief er.
    Sein Vater sah ihn verdutzt an. »Was soll das heißen?«
    »Da oben ist ein Mann«, sagte er. »Ich war draußen im Wald, und dann habe ich zu meinem Fenster raufgeschaut, und da war er. Er hatte einen Hut auf und ein ganz langes Gesicht und hat in meinen Büchern geblättert. Dann hat Georgie angefangen zu schreien, und er hat aufgehört und gelauscht. Als er mich bemerkt hat, hat er versucht, sich zu verstecken. Bitte, Papa, du musst mir glauben!«
    Sein Vater runzelte die Stirn und legte die Zeitung weg. »David, wenn das ein Scherz sein soll – «
    »Nein, wirklich nicht!«
    Er folgte seinem Vater die Treppe hinauf, den Ast noch immer in der Hand. Die Tür zu seinem Zimmer war geschlossen, und Davids Vater zögerte einen Moment. Dann ergriff er den Knauf und drehte ihn. Die Tür ging auf.
    Einen Moment lang passierte gar nichts.
    »Siehst du«, sagte Davids Vater, »da ist nichts – «
    Etwas traf seinen Vater im Gesicht, und er stieß einen überraschten Schrei aus. Man hörte panisches Geflatter und einen dumpfen Aufprall, als das Etwas erst gegen die Wand, dann gegen die Fensterscheibe schlug. Nachdem David den ersten Schreck überwunden hatte, spähte er an seinem Vater vorbei und sah, dass der Eindringling eine Elster war, die mit ihrem schwarzweißen Gefieder wild umherflog und aus dem Zimmer zu entkommen versuchte.
    »Bleib draußen und lass die Tür zu«, sagte sein Vater. »Das sind hinterhältige Vögel.«
    David tat, wie ihm geheißen, obwohl er immer noch Angst hatte. Er hörte, wie sein Vater das Fenster öffnete und die Elster mit lauten Rufen auf die Öffnung zuscheuchte, bis das Geflatter schließlich verstummte und sein Vater leicht schwitzend die Tür öffnete.
    »Na, die hat uns beide ja schön erschreckt«, sagte er.
    David schaute ins Zimmer. Auf dem Fußboden lagen ein paar Federn, aber das war alles. Nirgends eine Spur von dem Vogel oder von dem seltsamen kleinen Mann, den er gesehen hatte. Er trat ans Fenster. Die Elster saß auf der verfallenen Mauer des Senkgartens, und es sah aus, als starre sie zu ihm hinauf.
    »Es war nur eine Elster«, sagte sein Vater. »Das war es, was du gesehen hast.«
    David war versucht zu widersprechen, doch wenn er darauf beharrte, dass etwas anderes in seinem Zimmer gewesen war, etwas viel Größeres und Böseres als eine Elster, dann würde sein Vater ihm nur

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