Das Buch der verlorenen Dinge
sagen, er solle nicht albern sein. Aber Elstern hatten keinen Buckel, trugen keine krummen Hüte und griffen auch nicht mit langen, krallenartigen Fingern nach schreienden Babys.
Er blickte erneut hinunter zum Senkgarten. Die Elster war verschwunden.
Sein Vater seufzte theatralisch. »Du glaubst immer noch nicht, dass es nur eine Elster war, stimmt’s?«, sagte er.
Er ging auf die Knie und sah unter dem Bett nach. Er öffnete den Schrank und kontrollierte das Badezimmer nebenan. Er spähte sogar hinter die Bücherregale, obwohl die Lücke so schmal war, dass kaum Davids Hand hineinpasste.
»Siehst du?«, sagte sein Vater. »Es war nur eine Elster.«
Doch er bemerkte, dass David nach wie vor Zweifel hatte, und so durchsuchten sie gemeinsam erst alle Zimmer im obersten Stock und dann die darunter, bis klar war, dass sich niemand außer David, seinem Vater, Rose und dem Baby im Haus befand. Dann setzte Davids Vater sich wieder in seinen Sessel und griff nach der Zeitung. In seinem Zimmer angekommen, hob David ein Buch auf, das vor dem Fenster auf dem Fußboden lag. Es war eines von Jonathan Tulveys Märchenbüchern, aufgeschlagen bei der Geschichte vom Rotkäppchen. Auf der einen Buchseite war eine Zeichnung von dem Wolf, wie er bedrohlich vor dem Rotkäppchen stand, das Blut der Großmutter an den Klauen und mit gefletschten Zähnen, bereit, auch ihre Enkelin zu fressen. Jemand, vermutlich Jonathan Tulvey, hatte den Wolf mit einem schwarzen Stift übermalt, als hätte die finstere Gestalt ihm Angst gemacht. David klappte das Buch zu und stellte es zurück ins Regal. In dem Augenblick bemerkte er die Stille im Zimmer. Kein Geflüster. Alle Bücher waren verstummt.
Ich nehme an, eine Elster hätte das Buch aus dem Regal reißen können, dachte David, aber eine Elster kommt nicht durch ein geschlossenes Fenster. Jemand war hier gewesen, so viel war sicher. In den alten Geschichten verwandelten sich die Leute andauernd in irgendwelche Tiere, oder sie wurden verwandelt. Konnte der Krumme Mann sich nicht in eine Elster verwandelt haben, um der Entdeckung zu entgehen?
Aber er war nicht weit geflogen, oh nein. Nur bis zum Senkgarten, und dann war er verschwunden.
Als David in der Nacht im Bett lag, halb wachend und halb schlafend, hörte er die Stimme seiner Mutter aus der Dunkelheit des Senkgartens heraufrufen. Sie rief seinen Namen und ermahnte ihn, sie nicht zu vergessen.
Da wusste David, dass der Augenblick nahte, wo er diesen Ort betreten musste und nachschauen, was dort verborgen war.
6
Vom Krieg und vom Weg
zwischen den Welten
Am nächsten Tag hatten David und Rose ihren schlimmsten Streit.
Es hatte sich schon lange angebahnt. Rose stillte Georgie, was bedeutete, dass sie nachts aufstehen musste, um ihn zu versorgen. Doch selbst wenn er seine Milch bekommen hatte, warf Georgie sich in seinem Bettchen herum und schrie, und dagegen konnte Davids Vater nicht viel tun, selbst wenn er da war. Das führte manchmal zu gereizten Auseinandersetzungen mit Rose. Meist begann es mit irgendeiner Kleinigkeit – einem Teller, den sein Vater wegzuräumen vergaß, oder Schmutzspuren auf dem Küchenboden von seinen Schuhen – und steigerte sich dann schnell zu wütendem Gebrüll, das damit endete, dass Rose anfing zu weinen und Georgie seine Mutter dabei lautstark unterstützte.
David fand, sein Vater sah älter und erschöpfter aus als früher. Er machte sich Sorgen um ihn. Und er vermisste seine Gegenwart. An dem Morgen, dem Morgen vor dem großen Streit, stand David in der Badezimmertür und sah zu, wie sein Vater sich rasierte.
»Du arbeitest wirklich hart«, sagte er.
»Ja, da hast du wohl recht.«
»Du bist immerzu müde.«
»Ich bin es müde, dass ihr beide, du und Rose, nicht miteinander auskommt.«
»Tut mir leid«, sagte David.
Sein Vater grummelte nur etwas Unverständliches. Er beendete seine Rasur, wusch sich die Schaumreste vom Gesicht und trocknete sich mit einem rosafarbenen Handtuch ab.
»Ich sehe dich nur so selten, das ist alles«, sagte David. »Ich hätte dich gerne wieder öfter hier.«
Sein Vater lächelte ihm zu und knuffte ihn spielerisch. »Ich weiß«, sagte er. »Aber wir müssen alle Opfer bringen, und da draußen gibt es Männer und Frauen, die viel größere Opfer bringen als wir. Sie bringen ihr Leben in Gefahr, und es ist meine Pflicht, alles nur Mögliche zu tun, um ihnen zu helfen. Es ist wichtig, dass wir herausfinden, was die Deutschen vorhaben und was sie über
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