Das Buch der verlorenen Dinge
hinauf in sein Zimmer ging, rechnete er damit, dass sein Vater hinter ihm herrufen und ihm befehlen würde, zurückzukommen und seinen Teller leer zu essen, doch nichts geschah. Frustriert ließ er sich auf sein Bett fallen. Er konnte es kaum erwarten, dass die Sommerferien endlich vorbei waren. Er hatte einen Platz in einer Schule in der Nähe bekommen, und das war immer noch besser, als jeden Tag mit Rose und Georgie zu verbringen.
David war nicht mehr so oft bei Dr. Moberley, vor allem deshalb, weil niemand Zeit hatte, ihn nach London zu fahren. Aber die Anfälle schienen ohnehin aufgehört zu haben. Er fiel nicht mehr um und wurde auch nicht mehr ohnmächtig, aber stattdessen erlebte er etwas, das noch viel merkwürdiger und beunruhigender war, sogar merkwürdiger als das Gemurmel der Bücher, an das er sich mittlerweile fast gewöhnt hatte.
David hatte Wachträume. Das war der einzige Begriff, der ihm dafür einfiel. Es fühlte sich an, als wenn man spät abends noch las oder Radio hörte und so müde wurde, dass man für einen kurzen Moment einschlief und anfing zu träumen, nur dass man natürlich nicht merkte, dass man eingeschlafen war und die Welt um einen herum plötzlich sehr seltsam wurde. Wenn David in seinem Zimmer spielte oder las oder im Garten umherging, fing auf einmal alles an zu schimmern. Die Wände verschwanden, das Buch fiel ihm aus der Hand, und anstelle des Gartens waren um ihn herum Hügel und hohe, graue Bäume. Er fand sich in einem fremden Land wieder, umgeben von Zwielicht und Schatten und kalten Winden und erfüllt vom scharfen Geruch wilder Tiere. Manchmal hörte er sogar Stimmen. Irgendwie hörten sie sich vertraut an, wenn sie ihm etwas zuriefen, doch sobald er versuchte, sich auf den Klang zu konzentrieren, löste sich die Vision auf, und er war wieder in seiner eigenen Welt.
Das Merkwürdigste war, dass eine der Stimmen – die lauteste und klarste – klang wie die seiner Mutter. Sie rief ihn aus der Dunkelheit. Sie rief ihn, und sie sagte ihm, dass sie lebte.
Am stärksten waren die Wachträume immer in der Nähe des Senkgartens, aber David fand sie so verstörend, dass er sich, so gut es ging, von diesem Teil des Grundstücks fernhielt. Er fand sie sogar so verstörend, dass er ernstlich erwog, Dr. Moberley davon zu erzählen, falls sein Vater die Zeit fand, mit ihm dorthin zu fahren. Vielleicht würde er ihm auch das mit den flüsternden Büchern erzählen, überlegte David. Es konnte ja sein, dass beides zusammenhing. Aber dann dachte er an Dr. Moberleys Fragen über Davids Mutter und daran, dass sie ihn womöglich »wegsperren« würden. Wenn David ihm sagte, dass er seine Mutter vermisste, sprach Dr. Moberley immer von Trauer und Verlust, und dass das ganz normal sei, aber dass man sich trotzdem bemühen müsse, darüber hinwegzukommen. Doch es war eine Sache, traurig zu sein, weil die eigene Mutter gestorben war, und eine ganz andere, ihre Stimme aus dem Schatten eines Senkgartens rufen zu hören, dass sie noch lebte, und zwar hinter der halb verfallenen Steinmauer. David war nicht sicher, wie Dr. Moberley darauf reagieren würde. Er wollte nicht weggesperrt werden, aber diese Träume machten ihm Angst. Er wollte, dass sie aufhörten.
Es war einer seiner letzten Tage zu Hause, bevor die Schule wieder anfing. Weil er es leid war, im Haus zu hocken, stromerte David ein wenig durch den Wald am hinteren Ende des Grundstücks. Er fand einen langen Ast und fuhr damit über das hohe Gras. In einem Strauch entdeckte er ein Spinnennetz und versuchte, die Spinne hervorzulocken. Er ließ ein kleines Holzstückchen auf die Mitte des Netzes fallen, doch nichts geschah. David begriff, dass es daran lag, dass das Holzstückchen sich nicht bewegte. Was die Spinne anlockte, war das Zappeln eines Insekts, und das brachte David auf den Gedanken, dass Spinnen viel cleverer waren, als es sich für so winzige Wesen gehörte.
Er wandte sich zum Haus um und blickte zum Fenster seines Zimmers. Das Efeu, das an der Mauer wuchs, bedeckte den Fensterrahmen fast völlig, sodass sein Zimmer mehr denn je wie ein Teil der Natur wirkte. Jetzt, wo er es aus der Ferne sah, fiel ihm auf, dass das Efeu rund um sein Fenster sehr dicht war, während es die anderen Fenster an dieser Hausseite kaum berührte. Es hatte sich auch nicht am unteren Teil der Mauer ausgebreitet, wie Efeu es normalerweise tat, sondern war direkt in einem schmalen Pfad zu seinem Fenster hinaufgeklettert. Wie die Bohnenranke aus dem
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