Das Buch der verlorenen Dinge
sitzen und abends über den Hausaufgaben. Sein Arbeitstag würde fast genauso lang sein wie der seines Vaters. Warum sollte er da nicht faulenzen, solange er es noch konnte? Nun wurde er ebenfalls wütend. Er stand auf und bemerkte, dass er mittlerweile genauso groß war wie sie. Die Worte sprudelten aus seinem Mund, bevor er es überhaupt merkte, eine Mischung aus Halbwahrheiten und Beleidigungen und dem ganzen Zorn, der sich seit Georgies Geburt angestaut hatte.
»Und was glaubst du, wer du bist?«, entgegnete er. »Du bist nicht meine Mutter, und so kannst du mit mir nicht reden. Ich wollte nicht hierherkommen. Ich wollte mit meinem Papa zusammen sein. Wir sind prima zurechtgekommen, bevor du aufgetaucht bist. Und jetzt, wo Georgie da ist, behandelst du mich, als wäre ich dir bloß noch im Weg. Aber weißt du was, du bist mir im Weg, und meinem Dad auch. Er liebt meine Mama immer noch, genau wie ich. Er denkt immer noch an sie, und er wird dich nie so lieben, wie er sie geliebt hat, niemals. Ganz egal, was du sagst oder tust, er liebt sie immer noch. Sie. Nicht dich.«
Da platzte Rose der Kragen. Sie holte aus und verpasste ihm eine Ohrfeige. Es war kein harter Schlag, sie bremste ihn sogar noch ab, als sie merkte, was sie tat, aber es genügte, um David aus dem Gleichgewicht zu bringen. Seine Wange brannte, und ihm stiegen die Tränen in die Augen. Einen Moment stand er fassungslos da, dann stieß er Rose beiseite und rannte auf sein Zimmer. Er drehte sich nicht um, auch nicht, als sie hinter ihm her rief, dass es ihr leidtäte. Er schloss die Tür hinter sich ab und machte sie auch nicht wieder auf, als Rose dagegen klopfte. Nach einer Weile gab sie es auf und verschwand.
David blieb in seinem Zimmer, bis sein Vater nach Hause kam. Er hörte, wie Rose unten im Flur mit ihm sprach. Die Stimme seines Vaters wurde lauter. Rose versuchte, ihn zu beruhigen. Dann hörte er Schritte auf der Treppe. David wusste, was ihn erwartete.
Die Tür seines Zimmers bebte in den Angeln, als sein Vater mit den Fäusten dagegen schlug.
»David, mach die Tür auf. Sofort.«
Gehorsam drehte David den Schlüssel herum und wich hastig zurück, als sein Vater hereingestürmt kam. Das Gesicht seines Vaters war dunkelrot vor Zorn. Er hob die Hand, als wolle er David schlagen, hielt dann jedoch inne. Er schluckte einmal, holte tief Luft und schüttelte den Kopf. Als er sprach, war seine Stimme merkwürdig ruhig, was David fast mehr Angst einjagte als das wütende Gebrüll zuvor.
»Du hast kein Recht, so mit Rose zu reden«, sagte sein Vater. »Du wirst sie mit Respekt behandeln, genau wie du es mir gegenüber tust. Das Leben ist für uns alle nicht einfach, aber das entschuldigt nicht dein Verhalten von heute. Ich habe noch nicht entschieden, was ich mit dir machen oder wie ich dich bestrafen werde. Wenn es dafür nicht schon zu spät wäre, würde ich dich ins Internat schicken, dann würdest du merken, wie gut du es hier hast.«
David versuchte zu sprechen. »Aber Rose hat – « Sein Vater hob die Hand. »Ich will nichts hören. Wenn du noch einmal den Mund aufmachst, kannst du was erleben. Fürs Erste bleibst du in deinem Zimmer. Du wirst morgen nicht nach draußen gehen. Du wirst nicht lesen und auch nicht mit deinen Sachen spielen. Deine Tür bleibt offen, und wenn ich dich beim Lesen oder Spielen erwische, dann setzt es eine Tracht Prügel, so wahr mir Gott helfe. Du wirst dich hier auf dein Bett setzen und darüber nachdenken, was du gesagt hast und wie du dich bei Rose entschuldigen kannst, sobald ich dir gestatte, wieder am Leben zivilisierter Menschen teilzunehmen. Ich bin enttäuscht von dir, David. Ich habe dir beigebracht, dich besser zu benehmen. Wir beide haben das getan, deine Mama und ich.«
Damit ging er hinaus. David sank auf sein Bett. Er wollte nicht weinen, aber er konnte nicht anders. Es war ungerecht. Was er zu Rose gesagt hatte, war falsch gewesen, aber es war auch falsch von ihr gewesen, ihn zu ohrfeigen. Während ihm die Tränen über die Wangen liefen, bemerkte er das Gemurmel der Bücher in den Regalen. Er hatte sich so sehr daran gewöhnt, dass er es wie Vogelgezwitscher oder das Rauschen des Windes gar nicht mehr wahrnahm, doch nun wurde es lauter und lauter. Ihm stieg ein verbrannter Geruch in die Nase, wie von einem Streichholz, das gezündet wurde, oder von den Funken, die die Räder der Straßenbahn schlugen. Er biss die Zähne zusammen, als er das erste Zucken spürte, doch es war ja niemand
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