Das Buch der verlorenen Dinge
da, der ihn sehen konnte. Ein großer Riss erschien in seinem Zimmer, zerteilte seine Welt, und dahinter tat sich ein neues, fremdes Reich auf. Da war eine Burg mit wehenden Flaggen auf den Zinnen, durch deren Tor Kolonnen von Soldaten marschierten. Dann verschwand die Burg, und an ihre Stelle trat eine andere, die von umgestürzten Bäumen umgeben war. Sie war dunkler als die erste und seltsam konturlos, bis auf einen einzelnen hohen Turm, der wie ein Finger zum Himmel aufragte. Das oberste Fenster darin war erleuchtet, und David spürte, dass dort jemand war. Jemand, der ihm fremd war und doch vertraut. Eine Stimme, die klang wie die seiner Mutter, rief ihm etwas zu. Sie rief:
David, ich bin nicht tot. Komm her und rette mich.
David wusste nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war oder ob ihn irgendwann der Schlaf übermannt hatte, aber als er die Augen öffnete, war es dunkel in seinem Zimmer. Er hatte einen üblen Geschmack im Mund, und er merkte, dass er sich auf sein Kissen übergeben hatte. Er wäre am liebsten zu seinem Vater gegangen und hätte ihm von dem Anfall erzählt, aber aus der Ecke hatte er wohl vorläufig kein Mitgefühl zu erwarten. Im ganzen Haus herrschte Stille, also nahm er an, dass alle im Bett lagen und schliefen. Der Mond schien auf die Bücherreihen, aber sie waren jetzt wieder still, abgesehen von dem Schnarchen, das die langweiligeren Exemplare gelegentlich hören ließen. Da war zum Beispiel eine Geschichte des Kohlebergbaus, die einsam und ungeliebt ganz oben auf einem der Regale stand. Sie war ganz besonders uninteressant und hatte die lästige Angewohnheit, sehr laut zu schnarchen und ab und zu ein markerschütterndes Husten auszustoßen, bei dem kleine, schwarze Staubwolken aus den Seiten aufstiegen. Aber obwohl es jetzt ruhig war, spürte er eine eigentümliche Wachheit unter den älteren Büchern, denen mit den seltsamen, düsteren Märchen, die er so liebte. Sie schienen darauf zu warten, dass etwas Bestimmtes geschah, aber er hatte keine Ahnung, was es sein mochte.
David war sicher, dass er geträumt hatte, obwohl er sich nicht an den Inhalt des Traumes erinnern konnte. Es war kein angenehmer Traum gewesen, so viel wusste er, doch das Einzige, was ihm davon blieb, war ein diffuses Unbehagen und ein Kribbeln auf der Innenseite seiner rechten Hand, als hätte jemand mit Giftefeu darübergestrichen. Dasselbe Kribbeln spürte er auch auf seiner einen Wange, und er wurde das Gefühl nicht los, dass etwas Unangenehmes ihn berührt hatte, während er bewusstlos gewesen war.
Er trug immer noch seine Kleider. Er stand auf, zog sich im Dunkeln um und schlüpfte in einen sauberen Schlafanzug. Dann legte er sich wieder hin und versuchte einzuschlafen, doch es gelang ihm einfach nicht. Während er dalag und in die Dunkelheit starrte, bemerkte er, dass sein Fenster offen war. Das gefiel ihm nicht. Es war schon schwer genug, die Insekten draußen zu halten, wenn es geschlossen war, und er wollte auf keinen Fall, dass die Elster zurückkam, während er schlief.
Erneut stand David auf und ging vorsichtig zum Fenster. Etwas schlängelte sich über seinen nackten Fuß, und erschrocken zuckte er zurück. Es war eine Efeuranke. Überall bohrten sich Sprossen des Efeus durch die Wand, und die grünen Finger hatten sich über den Schrank und den Teppich und die Kommode ausgebreitet. Er hatte schon mit Mr. Briggs darüber gesprochen, und der Gärtner hatte ihm versprochen, dass er eine Leiter holen und das Efeu von außen zurückschneiden würde, aber bisher war noch nichts passiert. David mochte das Efeu nicht anfassen. Die Art, wie es sich über sein Zimmer ausbreitete, ließ es fast wie ein lebendes Wesen erscheinen.
David tastete nach seinen Hausschuhen und schlüpfte hinein. Als er an das Fenster trat, um es zu schließen, hörte er, wie eine Frauenstimme seinen Namen sagte.
»David.«
»Mama?«, fragte er unsicher.
»Ja, David, ich bin es. Hör mir zu. Hab keine Angst.«
Doch David hatte Angst.
»Bitte«, sagte die Stimme. »Ich brauche deine Hilfe. Ich bin gefangen. Ich bin an diesem seltsamen Ort gefangen und weiß nicht, was ich tun soll. Bitte komm, David. Wenn du mich lieb hast, komm zu mir.«
»Ich habe Angst, Mama«, sagte er.
Die Stimme sprach erneut, aber sie klang jetzt leiser.
»David«, sagte sie, »sie bringen mich fort. Lass nicht zu, dass sie mich dir wegnehmen. Bitte! Folge mir und bring mich nach Hause. Folge mir durch den Garten.«
Das genügte David, um
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