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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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uns wissen. Das ist meine Aufgabe. Und vergiss nicht, wie gut es uns hier geht. Die Menschen in London haben es viel schwerer.«
    Am Tag zuvor hatte es einen schweren Angriff auf London gegeben. Laut Davids Vater waren über der Isle of Sheppey mehr als tausend Flugzeuge in der Luft gewesen. David fragte sich, wie London jetzt wohl aussehen mochte. Waren dort nur noch ausgebrannte Ruinen und Schutthaufen, wo früher Straßen gewesen waren? Hockten die Tauben immer noch auf dem Trafalgar Square? Wahrscheinlich schon. Die Tauben waren nicht klug genug, um von dort wegzugehen. Vielleicht hatte sein Vater ja recht, dass sie froh sein konnten, hier zu sein, aber ein Teil von David dachte, dass es bestimmt aufregend war, jetzt in London zu leben. Ein bisschen unheimlich, aber aufregend.
    »Irgendwann wird es vorbei sein, und dann können wir alle wieder in unser normales Leben zurückkehren«, sagte sein Vater.
    »Wann?«, fragte David.
    Sein Vater zog eine sorgenvolle Miene. »Ich weiß nicht. Es kann noch eine Weile dauern.«
    »Ein paar Monate?«
    »Nein, ich fürchte, länger.«
    »Gewinnen wir, Papa?«
    »Wir halten durch, David. Im Moment ist das alles, was wir tun können.«
    David verließ seinen Vater, um sich anzuziehen. Sie frühstückten alle gemeinsam, aber Rose und sein Papa sprachen kaum miteinander. David wusste, dass sie sich wieder gestritten hatten, und so beschloss er, als sein Vater zur Arbeit aufbrach, Rose noch mehr aus dem Weg zu gehen, als er es ohnehin schon tat. Er blieb eine Weile auf seinem Zimmer und spielte mit den Zinnsoldaten, und später legte er sich in den Schatten hinter dem Haus, um zu lesen.
    Dort fand Rose ihn. Obwohl das Buch offen auf seiner Brust lag, war Davids Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet. Er sah hinüber zum Ende des Rasens, wo der Senkgarten lag, den Blick auf das Loch in der Mauer geheftet, als erwarte er, dass sich dort etwas bewegte.
    »Da bist du also«, sagte Rose.
    David blickte zu ihr hoch. Die Sonne blendete ihn, und er musste die Augen zukneifen. »Was willst du?«, fragte er.
    Er hatte es nicht so gemeint, wie es herauskam. Es klang respektlos und patzig, aber das war er nicht, jedenfalls nicht mehr als sonst. Er hätte vielleicht besser sagen sollen: »Was kann ich für dich tun?« oder wenigstens ein »Ja« oder »Stimmt« oder einfach »Hallo« vor seine Frage setzen, aber als ihm das einfiel, war es schon zu spät.
    Rose hatte rote Ränder um die Augen. Sie war blass, und es sah aus, als wären in ihrem Gesicht jetzt mehr Falten als früher. Sie hatte auch zugenommen, aber David nahm an, dass das vom Kinderkriegen kam. Er hatte seinen Vater danach gefragt, und der hatte ihn ermahnt, er dürfe Rose niemals und unter keinen Umständen darauf ansprechen. Es war ihm sehr ernst damit gewesen. Er hatte sogar das Wort »lebenswichtig« gebraucht, um zu unterstreichen, wie viel ihm daran lag, dass David solche Gedanken für sich behielt.
    Und nun stand Rose, dicker und blasser und erschöpfter als früher, vor David, und trotz der Sonne, die ihm in die Augen schien, konnte er sehen, wie der Zorn in ihr hochstieg.
    »Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden!«, schimpfte sie. »Du sitzt den ganzen Tag nur irgendwo mit deinen Büchern herum und trägst nicht das Geringste zum Leben in diesem Haus bei. Und obendrein bist du noch frech. Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«
    David wollte sich entschuldigen, tat es dann aber doch nicht. Was sie sagte, war ungerecht. Er hatte sich schon mehrfach erboten, Rose zu helfen, aber sie hatte ihn jedes Mal abgewiesen, wahrscheinlich weil er immer die Momente erwischte, wenn Georgie gerade Ärger machte oder sie mit irgendetwas anderem beschäftigt war. Mr. Briggs kümmerte sich um den Garten, und David half ihm oft mit dem Fegen und Harken, aber davon bekam Rose nichts mit, weil es draußen war. Mrs. Briggs übernahm das Putzen und meist auch das Kochen, aber immer wenn David ihr helfen wollte, scheuchte sie ihn aus dem Zimmer, weil er ihr angeblich nur vor den Füßen stand. So war er zu dem Schluss gekommen, dass es das Beste war, wenn er allen möglichst aus dem Weg ging. Außerdem waren dies seine letzten Ferientage. Die Dorfschule hatte den Unterrichtsbeginn wegen Lehrermangels um ein paar Tage verschoben, aber sein Vater schien überzeugt zu sein, dass David spätestens Anfang nächster Woche an seinem neuen Pult sitzen würde. Von da an würde er bis zu den Herbstferien den ganzen Tag über in der Schule

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