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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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Rücken des Pferdes und schickte sich an, wieder aufzusitzen. Sein linker Fuß war bereits in der Luft, als er innehielt und auf den Boden sah. David folgte seinem Blick und bemerkte das Kerngehäuse des Apfels, das direkt vor den Hufen des Pferdes lag. Der Jäger stellte den Fuß wieder ab, starrte auf das Kerngehäuse und zog dann in einer einzigen, geschmeidigen Bewegung einen Pfeil aus dem Köcher, spannte den Bogen und zielte in das Geäst des Apfelbaums. Die Pfeilspitze zeigte genau auf David.
    »Komm runter«, sagte der Jäger, die Stimme ein wenig gedämpft durch den Schal, den er über dem Mund trug. »Sonst helfe ich nach.«
    David blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Er merkte, wie ihm die Tränen kamen. Er versuchte verzweifelt, sie wegzublinzeln, aber er konnte das Blut des Rehmädchens riechen. Seine einzige Hoffnung war, dass der Jäger für heute genug Beute gemacht hatte und ihn deshalb verschonte.
    Als David unten ankam, war er kurz versucht, die Flucht zu ergreifen und sein Glück im Wald zu versuchen, doch er verwarf den Gedanken sofort wieder. Ein Jäger, der ein Reh mitten im Sprung mit einem Pfeil töten konnte, und das noch aus dem Galopp, würde einen fliehenden Jungen mit Leichtigkeit treffen. Er konnte nur hoffen, dass der Jäger Erbarmen mit ihm hatte, doch als er vor der vermummten Gestalt stand und die toten Augen des Rehmädchens sah, bezweifelte er, dass von jemandem, der so etwas tat, Erbarmen zu erwarten war.
    »Leg dich hin«, sagte der Jäger. »Auf den Bauch.«
    »Bitte tu mir nicht weh«, sagte David.
    »Hinlegen!«
    David kniete sich auf den Boden und legte sich widerstrebend auf den Bauch. Er hörte, wie der Jäger auf ihn zutrat, seine Arme auf den Rücken zerrte und sie mit einem rauen Seil zusammenband. Das Schwert wurde ihm abgenommen, dann wurden auch seine Füße gefesselt. Der Jäger hob ihn hoch und warf ihn über den Rücken des großen Pferdes, sodass er auf dem toten Reh lag, die linke Seite schmerzhaft gegen den Sattel gedrückt. Doch David dachte nicht an den Schmerz, nicht einmal als das Pferd anfing zu traben und der Knauf sich mit jedem Schritt wie ein Dolch in seine Seite bohrte.
    Nein, das Einzige, woran David denken konnte, war der Kopf des Rehmädchens, denn ihr Gesicht rieb sich im Rhythmus des Pferdes an seinem, ihr warmes Blut beschmierte seine Wange, und er sah sich selbst im dunkelgrünen Spiegel ihrer Augen.

16
    Von den drei Chirurgen
     
     
     
    Sie ritten etwa eine Stunde, vielleicht auch länger. Der Jäger sprach kein Wort. David war schwindlig von dem Geschaukel auf dem Pferderücken, und ihm tat der Kopf weh. Das Blut des Rehmädchens verströmte einen intensiven Geruch, und je länger sie unterwegs waren, desto kühler fühlte sich ihre Haut an seiner an.
    Schließlich kamen sie zu einem lang gezogenen steinernen Haus im Wald. Es war schlicht und schmucklos, mit schmalen Fenstern und einem hohen Dach. An der einen Seite befand sich ein großer Stall, und dort saß der Jäger ab und führte sein Pferd hinein. In dem Stall waren noch allerlei andere Tiere. In einer der Boxen stand eine Hirschkuh, die auf ein paar Strohhalmen herumkaute und blinzelnd zu den Neuankömmlingen herübersah. In einem Drahtgehege liefen Hühner herum, und an einer Wand standen Verschläge mit Kaninchen. Nicht weit von ihnen sprang ein Fuchs gegen sein Käfiggitter, hin und her gerissen zwischen der Angst vor dem Jäger und der Gier nach der lockenden Beute, die so nah und doch unerreichbar war.
    Der Jäger nahm den Kopf des Rehmädchens vom Sattelknauf, warf sich danach David über die Schulter und trug ihn zum Haus. Der Kopf des Rehmädchens schlug mit einem dumpfen Geräusch gegen die Tür, als der Jäger die Klinke herunterdrückte. Dann trat er ins Haus, und David wurde auf den Steinboden geworfen. Er landete auf dem Rücken und blieb halb betäubt und voller Angst dort liegen, während nach und nach die Lampen angezündet wurden und der Schlupfwinkel des Jägers sichtbar wurde.
    Die Wände waren mit Köpfen bedeckt, jeder einzeln auf einem Holzbrett befestigt. Die meisten Köpfe stammten von Tieren – Rehe, Wölfe, sogar ein Loup, der offenbar einen Ehrenplatz in der Mitte der Wand bekommen hatte –, doch es waren auch Menschenköpfe darunter. Einige gehörten jungen Erwachsenen, und drei stammten von sehr alten Männern, aber die meisten schienen Kindern zu gehören, Jungen und Mädchen; ihre Augen waren durch kleine Glaskugeln ersetzt, die im

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