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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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hinter dem großen Hügel auf der rechten Seite«, sagte er schnell. »Es gibt einen Pfad, der dorthin führt, aber er ist gut versteckt. Du musst nach einem Baum Ausschau halten, in den ein Auge geschnitzt ist. Zumindest sieht es so aus, als ob es hineingeschnitzt ist. Bei diesen Bäumen weiß man nie. Nur für den Fall, dass du mal Gesellschaft brauchst.«
    »Danke«, sagte David. »Ich werde es niemandem verraten.«
    »Und denk dran«, sagte Bruder Nummer Eins, »falls du einem Prinzen oder einem jungen Edelmann begegnest oder überhaupt irgendjemandem, der verzweifelt genug aussieht, um für Geld eine dicke Frau zu heiraten, dann schick ihn zu uns, ja? Aber sag ihm, er soll auf der Straße warten, bis wir kommen. Nicht dass er auf eigene Faust zum Haus geht und, na ja, du weißt schon…«
    »Die Flucht ergreift«, beendete David den Satz für ihn.
    »Ja, genau. Na, dann alles Gute. Einen oder zwei Tagesmärsche von hier ist ein Dorf. Da findest du ganz bestimmt jemanden, der dir weiterhilft. Aber verlass auf gar keinen Fall die Straße, ganz gleich, was passiert. In diesen Wäldern gibt es eine Menge hinterhältige Wesen, und sie haben allerlei Tricks drauf, um die Leute in ihre Fänge zu locken, also sei vorsichtig.«
    Und damit verließen die Zwerge David und verschwanden im Wald. Er hörte, wie sie ein Lied anstimmten, eines, das Bruder Nummer Eins sich auf dem Weg zur Arbeit für sie ausgedacht hatte. Es hatte keine richtige Melodie, und Bruder Nummer Eins schien einige Schwierigkeiten gehabt zu haben, passende Reime für »Kollektivierung der Arbeit« und »Unterdrückung durch die Kettenhunde des Kapitalismus« zu finden, aber David war dennoch traurig, als das Lied verklang und er allein auf der stillen Straße zurückblieb.
    Er mochte die Zwerge. Oft verstand er zwar nicht, wovon sie sprachen, aber für eine Bande von mordlustigen, klassenkampf-besessenen halben Portionen waren sie ziemlich witzig. Nachdem sie ihn verlassen hatten, fühlte er sich sehr allein. Obwohl dies eindeutig eine größere Straße war, schien er der Einzige zu sein, der auf ihr unterwegs war. Hier und dort fand er Spuren von anderen Reisenden – die Überreste eines längst erkalteten Feuers, einen Lederriemen, angenagt von einem hungrigen Tier –, aber davon abgesehen deutete nichts darauf hin, dass ihm an diesem Tag ein anderes menschliches Wesen begegnen würde. Das ständige Zwielicht, das sich nur frühmorgens und spätabends nennenswert veränderte, raubte ihm die Energie und schlug ihm auf die Stimmung, und er merkte, dass seine Aufmerksamkeit nachließ.
    Manchmal schien er beim Gehen einzunicken, denn er erlebte kurze Traummomente, in denen Dr. Moberley sich über ihn beugte und etwas zu ihm sagte, und dann wieder Phasen von Dunkelheit, in denen er die Stimme seines Vaters zu hören glaubte. Dann erwachte er plötzlich wieder, als seine Füße gerade die Straße verlassen wollten und er beinahe in den Graben gefallen wäre.
    Er merkte, dass er sehr hungrig war. Er hatte morgens mit den Zwergen gefrühstückt, aber jetzt knurrte und krampfte sein Magen. In seiner Tasche war noch Proviant, und die Zwerge hatten seine Vorräte sogar um ein paar getrocknete Früchte aufgestockt, aber er hatte keine Ahnung, wie weit es noch bis zur Burg des Königs war. Das hatten ihm selbst die Zwerge nicht sagen können. Nach allem, was David bisher mitbekommen hatte, kümmerte der König sich überhaupt nicht um die Führung seines Landes. Bruder Nummer Eins hatte David erzählt, einmal sei jemand bei ihrem Haus aufgetaucht, der sich als königlicher Steuereintreiber vorgestellt hatte, doch nach einer Stunde in der Gesellschaft von Schneewittchen hatte er fluchtartig das Haus verlassen und war nie wiedergekommen. Das Einzige, was Bruder Nummer Eins ihm sagen konnte, war, dass es einen König gab (zumindest nahm er das an) und dass seine Burg irgendwo am Ende der Straße lag, auf der David unterwegs war, obwohl Bruder Nummer Eins sie nie gesehen hatte. Und so ging David weiter, geistesabwesend und mit knurrendem Magen, die Straße als matten weißen Schimmer vor sich.
    Bei einem seiner Beinahe-Stürze in den Graben erblickte David einen Baum voller Äpfel in einer Lichtung am Waldrand. Sie waren noch grün, schienen aber fast reif zu sein, und er spürte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Er erinnerte sich an die Warnung der Zwerge, dass er auf der Straße bleiben und sich nicht von den Geschenken des Waldes verlocken lassen sollte.

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