Das Buch der verlorenen Dinge
Aber was sollte schon passieren, wenn er sich ein paar Äpfel pflückte? Er konnte die Straße von dort ja sehen, und mithilfe eines Zweiges würde er sich wahrscheinlich genügend Äpfel für einen ganzen Tag oder sogar länger herunterholen können. Er blieb stehen und lauschte, doch alles war still.
David verließ die Straße. Der Boden war weich, und bei jedem Schritt machten seine Füße ein ekliges schmatzendes Geräusch. Beim Näherkommen sah er, dass die Äpfel am unteren Ende der Äste kleiner und weniger reif waren als die, die weiter oben und näher am Stamm hingen. Die waren so groß wie die Faust eines Mannes. Um an sie heranzukommen, musste er auf den Baum klettern, und wenn es etwas gab, was David richtig gut konnte, dann war es auf Bäume klettern. Wenige Minuten später saß David auf einer Astgabel und biss in einen Apfel, der wunderbar süß schmeckte. Es war Wochen her, seit er einen Apfel gegessen hatte. Ein Bauer hatte Rose heimlich ein paar zugesteckt, »für die Kinder«, aber sie waren klein und sauer gewesen. Diese hingegen schmeckten köstlich. Der Saft lief ihm übers Kinn, und das Fleisch war schön fest.
Gierig verschlang er den Rest des ersten Apfels und warf das Kerngehäuse weg, dann pflückte er sich den nächsten. Den aß er etwas langsamer, da er sich an die Warnung seiner Mutter erinnerte, dass es nicht gut war, zu viele Äpfel auf einmal zu essen. Davon bekam man Bauchweh, hatte sie gesagt. David nahm an, dass man von allem Bauchweh bekam, wenn man zu viel davon aß, aber er wusste nicht, ob das auch galt, wenn man den ganzen Tag so gut wie nichts gegessen hatte. Auf jeden Fall schmeckten die Äpfel lecker, und sein Magen war dankbar dafür.
Als er die Hälfte des zweiten Apfels verspeist hatte, vernahm er unter sich Geräusche. Jemand oder etwas näherte sich mit schnellen Schritten von links. Im Unterholz bewegte sich etwas, dann blitzte braunes Fell auf. Es sah aus wie ein Reh, obwohl David den Kopf nicht sehen konnte, und es floh ganz offensichtlich vor einer Gefahr. Sofort dachte David an die Wölfe. Er rückte näher an den Baumstamm und versuchte, sich dahinter zu verstecken. Gleichzeitig fragte er sich, ob die Wölfe wohl seine Fährte riechen würden, wenn sie vorbeikamen, oder ob das Wild ausreichte, um sie abzulenken.
Sekunden später brach das Reh aus der Deckung und kam auf die Lichtung unterhalb von Davids Baum. Es hielt einen Moment inne, als sei es unsicher, in welche Richtung es laufen sollte, und da erhaschte David zum ersten Mal einen genaueren Blick auf seinen Kopf. Überrascht schnappte er nach Luft, denn es war nicht der Kopf eines Rehs, sondern der eines jungen Mädchens mit blondem Haar und dunkelgrünen Augen. Dort, wo ihr Menschenhals endete und der Tierkörper begann, verlief eine rote Narbenlinie, als wären die beiden Wesen zusammengenäht worden. Erschrocken sah das Mädchen hoch, und ihre Blicke begegneten sich.
»Hilf mir!«, flehte sie. »Bitte!«
Da näherten sich die Geräusche des Verfolgers, und David sah einen Reiter auf die Lichtung zugaloppieren, den Bogen gespannt, den Pfeil zum Abschuss bereit. Das Rehmädchen hatte ihn auch gehört, denn die Muskeln ihrer Hinterbeine spannten sich, und sie sprang auf den Schutz der Bäume zu. Sie schwebte noch in der Luft, als der Pfeil ihren Hals traf. Von der Wucht des Aufpralls nach rechts geworfen, stürzte sie zu Boden und blieb zuckend liegen. Ihr Mund öffnete und schloss sich ein paar Mal, als wolle sie noch etwas sagen, dann überlief ein Beben ihren Körper, und sie rührte sich nicht mehr.
Der Reiter kam auf einem riesigen schwarzen Pferd auf die Lichtung getrabt. Er trug einen Umhang mit Kapuze und war ganz in den Farben des Herbstwaldes gekleidet, grün und braun. In der Linken hielt er einen kurzen Bogen, und über seiner Schulter hing ein Pfeilköcher. Er stieg vom Pferd, zog ein langes Schwert aus der Scheide, die an seinem Sattel befestigt war, und ging auf seine tote Beute zu. Dort holte er aus und hieb mit dem Schwert erst einmal, dann noch einmal auf den Hals des Rehmädchens ein. Nach dem ersten Schlag wandte David den Blick ab, die Hand vor den Mund gepresst und die Augen fest zugekniffen. Als er wieder einen Blick riskierte, war der Kopf des Mädchens vom Körper des Rehs abgetrennt, und der Jäger trug ihn an den Haaren. Dunkles Blut tropfte aus dem Hals auf den Waldboden. Mit dem Haar knüpfte er den Kopf an seinen Sattelknauf, dann hob er den Kadaver des Rehs auf den
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