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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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Lampenlicht funkelten. Auf der einen Seite des Raumes war ein Kamin und daneben ein schmales Bett mit einer Strohmatratze. An einer anderen Wand stand ein kleiner Tisch mit einem einzelnen Stuhl. Als David den Kopf ein wenig drehte, sah er, dass am Ende des Raumes getrocknetes Fleisch an Haken von der Decke hing. Er konnte nicht erkennen, ob es von Tieren oder von Menschen stammte.
    Doch das Dominierendste in dem Raum waren zwei massive Eichentische, so riesig, dass sie hier drinnen zusammengebaut worden sein mussten, Stück für Stück. Sie waren blutbefleckt, und von dort, wo David lag, konnte er Ketten und Handschellen und Lederriemen erkennen. An der einen Seite der Tische stand ein Gestell mit Messern, Beilen und chirurgischem Werkzeug, alles sichtlich alt, aber sorgfältig gepflegt und geschärft. Über den Tischen hingen Rahmen mit zahllosen Schläuchen, manche so dünn wie eine Nadel, andere so dick wie Davids Arm.
    In einem hohen Regal standen Glasbehälter in allen erdenklichen Größen und Formen, einige enthielten eine durchsichtige Flüssigkeit, andere diverse Körperteile. Ein Behälter war fast bis zum Rand mit Augen gefüllt. Für David sahen sie immer noch lebendig aus, als hätte die Tatsache, dass sie aus ihren Höhlen gerissen worden waren, ihnen nicht die Fähigkeit genommen zu sehen. Ein anderer enthielt eine Frauenhand mit einem goldenen Ehering am Finger und rotem Lack auf den Nägeln, der sich allmählich ablöste. In einem dritten Behälter lag ein halbes Gehirn, dessen Innenleben bloßgelegt und mit farbigen Nadeln markiert war.
    Und es gab noch schlimmere Dinge, oh ja, noch viel schlimmere…
    Schritte näherten sich. Der Jäger beugte sich über David, den Kopf jetzt von Kapuze und Schal befreit. Das Gesicht, das darunter zum Vorschein kam, gehörte einer Frau. Ihre Haut war derb und gerötet, der Mund schmal und ohne jedes Lächeln. Das Haar war zu einem lockeren Knoten hochgesteckt. Es war schwarz und weiß und silbern wie das Fell eines Dachses. Mit einem Griff löste sie ihr Haar, sodass es in einer mächtigen Welle auf ihre Schultern und ihren Rücken fiel. Sie ging in die Hocke, packte mit der rechten Hand Davids Gesicht und drehte es hin und her, um seinen Schädel zu begutachten. Dann betastete sie seinen Hals und die Muskeln in seinen Armen und Beinen.
    »Müsste gehen«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu David, dann ließ sie ihn dort am Boden liegen, während sie sich den Kopf des Rehmädchens vornahm. Sie sagte kein einziges Wort mehr zu ihm, bis sie, viele Stunden später, ihr Werk beendet hatte. Sie hob David hoch und setzte ihn auf einen niedrigen Stuhl, um ihm das Ergebnis ihrer Arbeit zu zeigen.
    Der Kopf des Rehmädchens war nun auf einem dunklen Holzbrett befestigt. Ihr Haar war gewaschen und auf dem Holz ausgebreitet worden, fixiert mit einer dünnen Schicht Kleber, damit es nicht verrutschte. An der Stelle ihrer Augen saßen Ovale aus grünem und schwarzem Glas. Ihre Haut war mit einer wachsartigen Substanz bedeckt, um sie zu konservieren, und ihr Schädel klang hohl, als die Jägerin dagegen klopfte.
    »Hübsch, nicht?«, bemerkte die Jägerin.
    David schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Dieses Mädchen hatte einst einen Namen gehabt. Sie hatte eine Mutter und einen Vater gehabt, vielleicht auch Schwestern und Brüder. Sie hatte gespielt, und sie hatte geliebt und war geliebt worden. Sie hätte erwachsen werden und ihrerseits Kinder bekommen können. Das alles war jetzt verloren.
    »Du bist anderer Meinung?«, fragte die Jägerin. »Vielleicht tut sie dir leid. Aber überleg doch mal: Mit den Jahren wäre sie alt und hässlich geworden. Männer hätten sie ausgenutzt. Kinder hätten ihren Leib zerrissen. Ihre Zähne wären verfault und ausgefallen, ihre Haut wäre faltig geworden, ihr Haar dünn und weiß. Doch nun wird sie für immer ein Kind bleiben und für immer schön.«
    Die Jägerin beugte sich vor. Sie strich David über die Wange, und zum ersten Mal lächelte sie. »Und bald wirst du wie sie sein.«
    David drehte den Kopf weg.
    »Wer bist du?«, fragte er. »Warum tust du das?«
    »Ich bin ein Jäger«, erwiderte sie schlicht. »Und ein Jäger muss jagen.«
    »Aber sie war ein kleines Mädchen«, sagte David. »Ein Mädchen mit dem Körper eines Tieres, aber trotzdem ein Mädchen. Ich habe sie sprechen hören. Sie hatte Angst. Und dann hast du sie getötet.«
    Die Jägerin streichelte das Haar des Rehmädchens.
    »Ja«, sagte sie sanft. »Sie hat

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