Das Buch der verlorenen Dinge
länger durchgehalten, als ich erwartet hatte. Sie war klüger, als ich dachte. Vielleicht wäre der Körper eines Fuchses passender gewesen, aber jetzt ist es zu spät.«
»Du hast sie so gemacht?«, stieß David aus. Obgleich er Angst hatte, klang sein Abscheu darüber, was die Jägerin getan hatte, in jedem Wort mit. Die Jägerin schien überrascht über die Heftigkeit seiner Reaktion und kam offenbar zu dem Schluss, dass eine Rechtfertigung ihrer Taten nötig war.
»Ein Jäger ist stets auf der Suche nach neuer Beute«, sagte sie. »Ich war es leid, Tiere zu jagen, und Menschen zu jagen ist langweilig. Ihr Geist ist zwar intelligent, aber ihr Körper ist schwach. Und dann dachte ich, wie wunderbar es wäre, wenn ich den Körper eines Tieres mit der Intelligenz eines Menschen verbinden könnte. Welch eine Herausforderung für meine Fähigkeiten! Aber es war ungeheuer schwer, diese Mischwesen zu erschaffen. Sowohl die Tiere wie auch die Menschen starben, bevor ich sie miteinander verbinden konnte. Ich konnte die Blutung einfach nicht lange genug stoppen. Ihr Gehirn versagte, ihr Herz blieb stehen, und meine ganze Arbeit floss dahin, Blutstropfen um Blutstropfen.
Und dann hatte ich Glück. Drei Chirurgen kamen durch den Wald, und ich nahm sie gefangen und brachte sie hierher. Sie erzählten mir von einer Salbe, die sie entwickelt hatten und mit der man eine abgetrennte Hand wieder an das Gelenk ansetzen konnte, oder ein Bein an den Rumpf. Ich brachte sie dazu, mir ihre Erfindung vorzuführen. Ich trennte einem von ihnen den Arm ab, und die anderen brachten ihn wieder an, genau wie sie gesagt hatten. Dann schnitt ich einen anderen mittendurch, und seine Freunde machten ihn wieder ganz. Zu guter Letzt hieb ich dem dritten den Kopf ab, und sie befestigten ihn wieder auf seinem Hals.
Die drei wurden meine ersten neuen Beutewesen«, sagte sie und zeigte auf die Köpfe der drei alten Männer an der Wand. »Nachdem sie mir gezeigt hatten, wie man die Salbe herstellt, versteht sich. Jetzt ist jede Beute anders, denn jedes Kind fügt dem Tier, mit dem ich es verbinde, etwas von sich selbst hinzu.«
»Aber warum Kinder?«, fragte David.
»Weil Erwachsene verzweifeln«, antwortete sie, »und das tun Kinder nicht. Kinder passen sich an ihren neuen Körper und ihr neues Leben an, denn welches Kind hat nicht davon geträumt, ein Tier zu sein? Und um ehrlich zu sein, ich jage viel lieber Kinder. Sie sind findiger, und sie ergeben bessere Trophäen für meine Wand, weil sie schöner sind.«
Die Jägerin trat einen Schritt zurück und musterte David eingehend, als würde sie sich erst jetzt der Eigenart seiner Fragen bewusst.
»Wie heißt du, und woher kommst du?«, fragte sie. »Du stammst nicht aus diesem Land, das merke ich an deinem Geruch und deiner Sprache.«
»Ich heiße David, und ich komme aus einem anderen Land.«
»Was für ein Land?«
»England.«
»Eng-land«, wiederholte die Jägerin. »Und wie bist du hierhergekommen?«
»Es gab einen Übergang von meinem Land zu diesem, durch den bin ich gekommen, aber jetzt kann ich nicht wieder zurück.«
»Wie traurig«, sagte die Jägerin. »Und gibt es in Eng-land viele Kinder?«
David antwortete nicht. Die Jägerin packte sein Gesicht und grub ihre Fingernägel in seine Haut. »Antworte mir!«
»Ja«, sagte er widerstrebend.
Die Jägerin ließ ihn los.
»Vielleicht werde ich mir von dir den Weg zeigen lassen. Hier gibt es nur noch wenige Kinder. Sie stromern nicht mehr so umher wie früher. Das hier«, sie deutete auf das Rehmädchen, »war mein letztes, und ich hatte es mir schon aufgehoben. Aber jetzt habe ich ja dich. Hm… Soll ich dich so verwenden, wie ich sie verwendet habe, oder soll ich mich von dir nach Eng-land bringen lassen?«
Sie trat einen Schritt zurück und überlegte eine Weile.
»Ich bin geduldig«, sagte sie schließlich. »In diesem Land kenne ich mich aus, und ich habe schon so manche Veränderung durchgestanden. Die Kinder werden zurückkommen. Bald wird es Winter, und ich habe genügend Vorräte gehortet. Du wirst meine letzte Jagd, bevor der Schnee kommt. Ich werde aus dir einen Fuchs machen, denn ich glaube, du bist sogar noch intelligenter als mein kleines Rehmädchen. Wer weiß, vielleicht entkommst du mir sogar und verbringst den Rest deines Lebens in irgendeinem verborgenen Winkel des Waldes. Bisher hat das zwar noch niemand geschafft, aber es gibt ja immer die Hoffnung, mein lieber David. Und jetzt schlaf, denn morgen geht es
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