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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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riefen ihm in Erinnerung, dass sie sich an einem Ort befanden, wo Menschen verletzt und möglicherweise getötet worden waren.
    »Was ist hier passiert?«, fragte er Roland.
    Der Reiter rutschte unbehaglich im Sattel herum, denn der Panzer war ihm immer noch unheimlich.
    »Das weiß ich nicht«, sagte er. »Wahrscheinlich eine Schlacht, so wie es hier aussieht. Und zwar erst vor kurzer Zeit. Der Blutgeruch hängt noch in der Luft, aber wo sind die Toten? Und falls man sie begraben hat, wo sind die Gräber?«
    »Ihr sucht am falschen Ort, Reisende«, sagte eine Stimme hinter ihnen. »Die Toten sind nicht auf dem Feld. Sie sind… anderswo.«
    Roland wendete Scylla und zog sein Schwert. Mit der anderen Hand half er David wieder aufs Pferd. Sobald David saß, zog er ebenfalls sein kleines Schwert aus der Scheide.
    Neben der Straße stand eine halb verfallene Mauer, die Überreste eines großen, längst verschwundenen Gebäudes. Oben auf den Steinen saß ein alter Mann. Er war vollkommen kahl, und dicke blaue Adern liefen über seinen Schädel wie Flüsse auf der Karte eines öden, kalten Landstrichs. Seine Augen waren blutunterlaufen, und die Höhlen schienen zu groß für sie, sodass das rote Fleisch unter den Augäpfeln zu sehen war. Seine Nase war lang und seine Lippen schmal und trocken. Er trug eine alte braune Kutte, fast wie ein Mönch, die bis zu seinen Knöcheln reichte. Er hatte keine Schuhe an, und seine Zehennägel waren gelb.
    »Wer hat hier gekämpft?«, fragte Roland.
    »Ich habe sie nicht nach ihrem Namen gefragt«, sagte der alte Mann. »Sie sind gekommen, und sie sind gestorben.«
    »Aber wofür? Sie müssen doch einen Grund gehabt haben.«
    »Zweifellos. Ich bin sicher, sie waren überzeugt, einen sehr guten Grund zu haben. Aber sie hat das offenbar anders gesehen.«
    Der Geruch des Schlachtfelds schlug David auf den Magen, und das verstärkte noch sein Gefühl, dass man dem Alten nicht trauen konnte. Die Art, wie er von dieser »sie« sprach und wie er dabei lächelte, machte David deutlich, dass die Männer, die hier gestorben waren, auf sehr schlimme Weise gestorben sein mussten.
    »Und wer ist ›sie‹?«, fragte Roland.
    »Sie ist das Ungeheuer, die Kreatur, die tief im Wald unter den Ruinen eines Turms lebt. Sie hat lange geschlafen, aber jetzt ist sie wieder erwacht.« Der alte Mann deutete auf die Bäume hinter ihm. »Es waren die Männer des Königs. Sie haben versucht, die Herrschaft über ein dem Untergang geweihtes Königreich aufrechtzuerhalten, und sie haben teuer dafür bezahlt. Hier hatten sie ihre Stellung aufgebaut, aber sie wurden überwältigt. Als sie sich mit ihren Toten und Verletzten in den Wald dahinten zurückgezogen haben, hat sie sich über sie hergemacht.«
    David räusperte sich. »Wie ist der Panzer dorthin gekommen?«, fragte er. »Er gehört doch nicht hierher.«
    Der alte Mann grinste und entblößte dabei dunkelrotes Zahnfleisch und verfaulte Zähne. »Vielleicht auf dieselbe Weise wie du, mein Junge«, erwiderte er. »Du gehörst auch nicht hierher.«
    Roland lenkte Scylla auf den Wald zu, wobei er einen Bogen um den alten Mann schlug. Scylla war ein mutiges Pferd, und sie zögerte nur einen winzigen Augenblick, bevor sie dem Befehl ihres Herrn folgte.
    Der Geruch nach Blut und Verwesung wurde stärker. Vor ihnen lag ein kleines, übel zugerichtetes Waldstück, und David begriff, dass der Geruch von dort kommen musste. Roland forderte David auf abzusteigen, sich mit dem Rücken an einen Baum zu stellen und ein waches Auge auf den alten Mann zu haben, der immer noch auf der verfallenen Mauer saß und über die Schulter zu ihnen herübersah.
    Offenbar wollte Roland verhindern, dass er sah, was sich hinter den Büschen verbarg, aber David konnte es sich doch nicht verkneifen hinzusehen, als er hörte, wie der Soldat sich einen Weg durch das Dickicht bahnte. Für einen kurzen Moment erblickte er Leichenteile, die von Bäumen hingen, kaum mehr als blutige Knochen. Hastig wandte er den Kopf ab – und starrte direkt in die Augen des alten Mannes. David hatte keine Ahnung, wie der Alte so schnell und so lautlos von der Mauer hierhergekommen war, aber nun stand er vor ihm, so dicht, dass der Junge seinen Atem riechen konnte. Er stank nach sauren Beeren. David packte sein Schwert fester, doch der alte Mann zuckte nicht einmal mit der Wimper.
    »Du bist weit weg von zu Hause, mein Junge«, sagte er. Er hob die Hand und strich über eine Strähne von Davids Haar. David

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