Das Buch der verlorenen Dinge
hatte: »Die vermissen dich kein bisschen. Die sind froh, dass du weg bist.«
Das konnte doch nicht wahr sein, oder? Andererseits hatte David gesehen, wie liebevoll sein Vater zu Georgie war und wie er Rose ansah und ihre Hand hielt, wenn sie spazieren gingen, und er hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was sie miteinander taten, wenn sie abends die Schlafzimmertür hinter sich zumachten. Was, wenn er den Weg zurück fand und sie ihn gar nicht wiederhaben wollten? Was, wenn sie ohne ihn wirklich glücklicher waren?
Doch der Krumme Mann hatte gesagt, dass er alles wiedergutmachen konnte, dass er ihm seine Mutter zurückgeben und sie wieder nach Hause bringen konnte, und das alles nur für einen einzigen kleinen Gefallen. David fragte sich, was das wohl für ein Gefallen sein mochte, während Roland Scylla zur Eile antrieb.
Zur selben Zeit erhob sich weit im Westen, außer Sicht- und Hörweite, ein Chor aus triumphierendem Geheul.
Die Wölfe hatten endlich eine andere Brücke über die Schlucht gefunden.
19
Von Rolands Geschichte
und dem Kundschafterwolf
Roland wäre eigentlich lieber die Nacht durchgeritten, weil seine Aufgabe drängte und weil er sich wegen der Wölfe Sorgen machte, die David auf den Fersen waren, doch Scylla wurde müde, und David war so erschöpft, dass er sich kaum noch an Roland festhalten konnte. Schließlich kamen sie zu einer Ruine, die offenbar eine Kirche gewesen war, und Roland entschloss sich, dort für ein paar Stunden zu rasten. Er wollte kein Feuer machen, obwohl es kalt war, aber er gab David eine Decke, in die er sich hüllen konnte, und ließ ihn einen Schluck aus einer silbernen Feldflasche trinken. Die Flüssigkeit darin brannte David in der Kehle, doch sie erfüllte seinen Körper mit Wärme. David legte sich hin und blickte in den Himmel. Über ihm ragte der Turm der Kirche auf, die Fenster so leer wie die Augen eines Toten.
»Der neue Glaube«, sagte Roland abschätzig. »Der König hat versucht, andere dazu zu bekehren, als er noch den Willen und die Macht dazu hatte. Jetzt, wo er sich in seiner Burg verkrochen hat, stehen seine Kirchen leer.«
»Woran glaubst du?«, fragte David.
»Ich glaube an die, die ich liebe und denen ich vertraue. Alles andere ist töricht. Dieser Gott ist so leer wie seine Kirche. Seine Anhänger schreiben alles Gute, das ihnen widerfährt, ihm zu, aber wenn er ihr Flehen ignoriert oder sie leiden lässt, sagen sie nur, es läge jenseits ihres Verstandes, und ergeben sich seinem Willen. Was ist das für ein Gott?«
Roland sprach mit solcher Wut und Verbitterung, dass David sich fragte, ob er einst diesem »neuen Glauben« gefolgt war und ihm dann den Rücken gekehrt hatte, nachdem ihm etwas Schlimmes zugestoßen war. David hatte bisweilen dasselbe verspürt, als er in den Wochen und Monaten nach dem Tod seiner Mutter in der Kirche gesessen und gehört hatte, wie der Pfarrer von Gott und seiner Liebe zu den Menschen gesprochen hatte. Es war ihm schwergefallen, den Gott des Pfarrers mit dem in Einklang zu bringen, der seine Mutter so langsam und qualvoll hatte sterben lassen.
»Und wen liebst du?«, fragte er Roland.
Doch Roland tat, als hätte er ihn nicht gehört.
»Erzähl mir von deinem Zuhause«, sagte er. »Erzähl mir von deiner Familie. Erzähl mir, was du willst, nur nichts von falschen Göttern.«
Und so erzählte David Roland von seiner Mutter und seinem Vater, von dem Senkgarten, von Jonathan Tulvey und seinen alten Büchern, davon, wie er die Stimme seiner Mutter gehört hatte und ihr in dieses seltsame Land gefolgt war, und schließlich auch von Rose und dem kleinen Georgie. Während er sprach, gelang es ihm nicht, seinen Zorn auf Rose und ihr Baby zu verbergen. Er schämte sich deswegen und fühlte sich kindlicher, als er Roland gegenüber erscheinen wollte.
»Das ist wirklich hart«, sagte Roland. »Dir ist sehr viel genommen worden, aber vielleicht hast du auch sehr viel bekommen.«
Mehr sagte er nicht dazu, denn er wollte nicht, dass der Junge dachte, er wolle ihm predigen. Stattdessen lehnte sich Roland gegen Scyllas Sattel und erzählte David eine Geschichte.
Rolands erste Geschichte
Es war einmal ein alter König, der seinen einzigen Sohn einer Prinzessin in einem weit entfernten Land zum Mann versprach. Als er sich von seinem Sohn verabschiedete, gab er ihm einen goldenen Becher, der seit vielen Generationen in seiner Familie gewesen war. Dies, so sagte er seinem Sohn, war ein Teil
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