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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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schüttelte wild den Kopf und wollte den alten Mann von sich stoßen. Es war, als drücke er gegen eine Wand. Der Alte sah zwar zerbrechlich aus, war aber wesentlich stärker als David.
    »Hörst du immer noch deine Mutter rufen?«, fragte der Alte. Er hielt sich die Hand ans Ohr, als lausche er. »Da-vid«, sang er mit hoher Stimme. »Oh, Da-vid.«
    »Hör auf!«, sagte David. »Hör sofort auf damit.«
    »Sonst passiert was?«, fragte der Alte hämisch. »Ein kleiner Junge, weit weg von zu Hause, der um seine tote Mutter weint. Was kannst du denn schon tun?«
    »Ich werde dir wehtun«, sagte David. »Das schwöre ich.«
    Der alte Mann spuckte auf die Erde. Dort, wo der Speichel landete, knisterte das Gras. Die Flüssigkeit breitete sich aus, bis sich eine schaumige Pfütze gebildet hatte.
    Und in der Pfütze sah David seinen Vater und Rose und den kleinen Georgie. Alle lachten, sogar Georgie, den sein Vater hoch in die Luft warf, wie er es früher mit David getan hatte.
    »Die vermissen dich nicht, weißt du«, sagte der Alte. »Die vermissen dich kein bisschen. Die sind froh, dass du weg bist. Du hast deinem Vater Schuldgefühle gemacht, weil du ihn an deine Mutter erinnert hast, aber jetzt hat er eine neue Familie, und seit du verschwunden bist, braucht er sich keine Gedanken mehr um dich oder deine Gefühle zu machen. Er hat dich längst vergessen, so wie er deine Mutter vergessen hat.«
    Das Bild in der Pfütze veränderte sich, und David sah das Schlafzimmer von seinem Vater und Rose. Die beiden standen neben dem Bett und küssten sich. Dann sanken sie vor Davids Augen in die Kissen. David wandte den Blick ab. Sein Gesicht brannte, und er spürte, wie eine gewaltige Wut in ihm hochstieg. Er wollte es nicht glauben, doch er hatte den Beweis vor sich, in einer Pfütze aus brodelndem Speichel, ausgespuckt vom Mund eines widerwärtigen alten Mannes.
    »Siehst du«, sagte der Alte, »da ist nichts mehr, wofür es sich lohnte zurückzukehren.«
    Er lachte, und David hieb mit seinem Schwert zu. Ihm war nicht einmal bewusst, was er tat. Er war einfach nur furchtbar wütend und traurig. Noch niemals zuvor hatte er sich so betrogen gefühlt. Ihm war, als hätte etwas die Kontrolle über seinen Körper übernommen, etwas außerhalb seiner selbst, als hätte er keinen eigenen Willen mehr. Sein Arm hob sich wie von selbst und stach auf den alten Mann ein, schlitzte die braune Kutte auf und hinterließ eine blutige Schramme in der Haut darunter.
    Der alte Mann wich zurück. Er berührte die Wunde auf seiner Brust. Seine Finger waren blutbeschmiert. Plötzlich veränderte sich sein Gesicht. Es zog sich in die Länge und nahm die Form eines Halbmondes an, das Kinn so weit hochgewölbt, dass es fast die Spitze seiner krummen Nase berührte. Büschel von borstigem, schwarzem Haar sprossen aus seinem Schädel. Er warf die braune Kutte ab, und darunter kam ein Anzug in Grün und Gold zum Vorschein, geschmückt mit einem kunstvollen goldenen Gürtel und einem goldenen Dolch, gewunden wie der Körper einer Schlange. In dem Anzug war ein Riss, wo David den kostbaren Stoff mit dem Schwert aufgeschlitzt hatte. Zu guter Letzt erschien ein flacher schwarzer Kreis in der Hand des Mannes. Eine kurze Bewegung aus dem Handgelenk, und aus dem Kreis wurde ein krummer Zylinderhut, den der Mann sich auf den Kopf setzte.
    »Du«, sagte David. »Du warst in meinem Zimmer.«
    Der Krumme Mann zischte David an, und der Dolch an seiner Seite begann sich zu winden, als wäre es eine echte Schlange. Sein Gesicht war verzerrt von Wut und Schmerz.
    »Ich bin durch deine Träume gegangen«, sagte er. »Ich kenne alle deine Gedanken, alle deine Gefühle und alle deine Ängste. Ich weiß, was für ein verzogenes, eifersüchtiges, abscheuliches Kind du bist. Und trotz alledem wollte ich dir helfen. Ich wollte dir helfen, deine Mutter zu finden, aber du hast mich mit deinem Schwert verletzt. Oooh, du bist ein schrecklicher Junge. Ich könnte dafür sorgen, dass du es bedauerst, so sehr, dass du dir wünschst, du wärst niemals geboren, aber – «
    Auf einmal veränderte sich sein Tonfall. Er wurde ganz ruhig und besonnen, was David jedoch noch mehr Angst einjagte.
    »Das werde ich nicht tun, weil du mich noch brauchst. Ich kann dich zu der Person bringen, die du suchst, und ich kann dafür sorgen, dass ihr beide nach Hause kommt. Ich bin der Einzige, der das kann. Und im Gegenzug bitte ich dich nur um eine einzige kleine Sache, so klein, dass du sie gar

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