Das Buch der verlorenen Dinge
dasselbe.«
»Und, gefiel dir das Ende?«
»Ja, als ich klein war, schon. Ich fand, der falsche Prinz hatte es nicht anders verdient. Es gefiel mir, wenn die Bösen mit dem Tod bestraft wurden.«
»Und jetzt?«
»Jetzt erscheint es mir grausam.«
»Aber er hätte einem anderen dasselbe angetan, wenn es in seiner Macht gelegen hätte.«
»Ja, wahrscheinlich, aber das macht die Bestrafung nicht gerechter.«
»Du hättest also Gnade walten lassen?«
»Wenn ich der echte Prinz gewesen wäre? Ja, ich glaube schon.«
»Aber hättest du ihm auch vergeben?«
David dachte über die Frage nach.
»Nein, was er getan hat, war falsch, also verdient er eine Strafe. Ich hätte ihn die Schweine hüten und das Leben führen lassen, das er dem echten Prinzen aufgezwungen hat, und falls er je einem der Tiere oder einem anderen Menschen wehgetan hätte, hätte ich dafür gesorgt, dass man ihm dasselbe zufügt.«
Roland nickte anerkennend. »Das ist eine gute und gerechte Strafe. Und jetzt schlaf«, sagte er. »Die Wölfe sind uns auf den Fersen, und du musst dich ausruhen, solange du es kannst.«
David tat, wie ihm geheißen. Er legte den Kopf auf seine Tasche, schloss die Augen und fiel augenblicklich in tiefen Schlaf.
Er träumte nicht und wachte nur ein einziges Mal auf, bevor die Halbdämmerung den Beginn des neuen Tages ankündigte. Ihm war, als hörte er Roland leise sprechen. Als er die Augen öffnete, sah er, dass der Soldat ein kleines silbernes Medaillon betrachtete, in dem das Bild eines Mannes war, jünger als Roland und sehr schön. Diesem Bild flüsterte Roland etwas zu, und obgleich David nicht alles verstand, was er sagte, kam das Wort »Liebe« ganz eindeutig mehrfach vor.
Peinlich berührt zog David sich die Decke über den Kopf, um nichts mehr zu hören, bis der Schlaf zurückkehrte.
Roland war bereits auf den Beinen, als David erneut aufwachte. David teilte seine Vorräte mit dem Soldaten, obwohl nur noch wenig übrig war. Er wusch sich in einem Bach und hätte beinahe wieder mit seinen Zählregeln begonnen, doch dann fiel ihm der Rat des Försters ein, und er ließ es bleiben. Stattdessen reinigte er sein Schwert und schärfte die Klinge mit einem Stein. Er vergewisserte sich, dass sein Gürtel noch fest saß und dass die Schlinge, an der die Scheide hing, unbeschädigt war, dann bat er Roland, ihm zu zeigen, wie man Scylla sattelte und ihr das Zaumzeug anlegte. Das tat Roland, und er brachte ihm auch noch bei, wie man die Hufe und Fesseln eines Pferdes auf Steine oder Anzeichen von Verletzungen überprüfte.
David hätte Roland gern nach dem Bild in dem Medaillon gefragt, aber er wollte nicht, dass der Soldat dachte, er hätte ihm nachspioniert. So stellte er stattdessen die andere Frage, die ihn beschäftigte, seitdem sie sich begegnet waren, und wie es der Zufall wollte, lüftete sich dadurch auch gleich das Geheimnis des Mannes in dem Medaillon.
»Roland«, fragte David, als der Soldat Scylla erneut den Sattel auflegte. »Was ist das für eine Aufgabe, die du erledigen musst?«
Roland zog den Sattelgurt fest um den Bauch der Stute.
»Ich hatte einen Freund«, sagte er, ohne David anzusehen. »Er hieß Raphael. Er wollte sich denjenigen beweisen, die seinen Mut anzweifelten und hinter seinem Rücken schlecht über ihn redeten. Er hörte eine Geschichte von einer Frau, die in einer Kammer voller Schätze im ewigen Schlummer liegt, unter dem Bann einer Zauberin, und er schwor, sie von ihrem Fluch zu erlösen. Er machte sich von meinem Land auf, sie zu finden, aber er kam nie zurück. Er war mir teurer als ein Bruder. Ich habe geschworen herauszufinden, was ihm zugestoßen ist, und seinen Tod zu rächen, falls dies das Schicksal ist, das ihn ereilt hat. Es heißt, das Schloss, in dem die Frau liegt, bewegt sich mit dem Zyklus des Mondes. Im Augenblick steht es an einem Ort, der keine zwei Tagesritte von hier entfernt ist. Sobald wir in seinen Mauern die Wahrheit herausgefunden haben, bringe ich dich zum König.«
David kletterte auf Scyllas Rücken, dann führte Roland sie am Zügel zurück zur Straße, wobei er sorgsam den Boden auf verborgene Löcher und Senken absuchte, in denen die Stute sich verletzen konnte. David gewöhnte sich allmählich an das Sitzen auf dem Pferd und an den Rhythmus der Bewegungen, obwohl ihm der lange Ritt vom Tag zuvor noch in den Knochen saß. Er hielt sich am Sattelknauf fest, und sie verließen die Ruine der Kirche, als das erste schwache Licht des
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