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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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in Lebensgefahr. Als er den Raum verlassen wollte, stellte er fest, dass die Tür verschlossen war. Dann hörte er wieder die Stimme der Frau. Sie sagte: »Ich habe mehr für dich getan, als ich wollte, aber ich werde nicht zulassen, dass du in meinem Haus umherläufst. Seit vielen Jahren hat niemand mehr diesen Ort betreten. Es ist mein Reich. Wenn du wieder bei Kräften bist, werde ich die Tür öffnen, und dann musst du gehen, und du darfst niemals wieder herkommen.«
    »Wer seid Ihr?«, fragte Alexander.
    »Ich bin die Dame«, sagte sie. »Ich habe keinen anderen Namen mehr.«
    »Wo seid Ihr?«, fragte Alexander, weil es so klang, als käme ihre Stimme von irgendwo hinter den Wänden.
    »Ich bin hier«, sagte sie.
    Im gleichen Augenblick begann der Spiegel an der Wand zu seiner Rechten zu schimmern und wurde durchsichtig, und durch das Glas sah er die Gestalt einer Frau. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und saß auf einem mächtigen Thron in einem ansonsten vollkommen leeren Raum. Ihr Gesicht war verschleiert, und an den Händen trug sie samtene Handschuhe.
    »Darf ich nicht das Gesicht derjenigen sehen, die mir das Leben gerettet hat?«, fragte Alexander.
    »Ich ziehe es vor, verschleiert zu bleiben«, erwiderte die Dame.
    Alexander verneigte sich, denn wenn dies der Wille der Dame war, dann sollte es so sein.
    »Wo sind Eure Diener?«, fragte Alexander. »Ich würde mich gerne vergewissern, dass mein Pferd gut versorgt ist.«
    »Ich habe keine Diener«, sagte die Dame. »Ich habe mich selbst um dein Pferd gekümmert. Es geht ihm gut.«
    Alexander hatte so viele Fragen, dass er nicht wusste, wo er anfangen sollte. Er öffnete den Mund, doch die Dame hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Ich werde dich jetzt verlassen«, sagte sie. »Schlaf, denn ich möchte, dass du dich so schnell wie möglich erholst und diesen Ort verlässt.«
    Wieder schimmerte der Spiegel, die Dame verschwand, und Alexander sah sein eigenes Spiegelbild vor sich. Da er sonst nichts zu tun hatte, legte er sich wieder hin und schlief.
    Am nächsten Morgen fand Alexander beim Aufwachen frisches Brot und einen Krug warme Milch neben dem Bett, dabei hatte er niemanden hereinkommen hören. Er trank von der Milch, und während er das Brot aß, ging er zum Spiegel und blickte hinein. Obwohl sich das Bild nicht veränderte, war er sicher, dass die Dame hinter dem Glas war und ihn beobachtete.
    Nun war Alexander, wie viele der großen Ritter, nicht nur ein Krieger. Erspielte die Laute und die Leier, er konnte dichten und sogar ein wenig malen. Er liebte Bücher, denn in den Büchern stand das Wissen all derer, die vor ihm gelebt hatten. Und als am Abend die Dame wieder im Spiegel erschien, bat er sie um etwas von diesen Dingen, um sich die Zeit zu vertreiben, während er sich von seinen Verletzungen erholte. Am nächsten Morgen lagen neben dem Bett ein Stapel alter Bücher, eine leicht verstaubte Laute und eine Leinwand, Farben und Pinsel. Erspielte ein wenig auf der Laute, dann nahm er die Bücher in Augenschein. Es waren Werke über Geschichte und Philosophie, Astronomie und Ethik, Poesie und Religion. Während er in den folgenden Tagen darin las, erschien die Dame häufiger hinter dem Spiegel und fragte ihn nach allem, was er gelesen hatte. Es war offensichtlich, dass sie die Bücher viele Male gelesen hatte und ihren Inhalt sehr gut kannte. Das überraschte Alexander, denn in seinem Land war Frauen der Zugang zu solchen Büchern nicht gestattet, aber er war dankbar für die Gespräche. Dann bat die Dame Alexander, ihr etwas auf der Laute vorzuspielen. Er befolgte ihren Wunsch, und es schien ihm, als gefielen ihr seine Melodien.
    So wurden aus den Tagen Wochen, und die Dame verbrachte immer mehr Zeit hinter dem Spiegel, unterhielt sich mit ihm über Kunst und Literatur, hörte ihm zu, wenn erspielte, und fragte ihn nach den Fortschritten seines Bildes, denn Alexander wollte ihr nicht zeigen, was er malte. Er nahm ihr sogar das Versprechen ab, dass sie nicht darauf schaute, während er schlief, denn er wollte nicht, dass sie es sah, solange es nicht fertig war. Und obgleich Alexanders Wunden fast geheilt waren, schien die Dame nicht mehr erpicht darauf zu sein, dass erging, und er selbst wollte auch nicht mehr fort, denn er war auf dem besten Weg, sich in diese seltsame verschleierte Frau hinter dem Spiegel zu verlieben. Er erzählte ihr von den Schlachten, in denen er gekämpft hatte, und von dem Ruhm, den er durch seine Siege erworben

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