Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
Vom Netzwerk:
hatte. Er wollte ihr zu verstehen geben, dass er ein großer Ritter und damit einer großen Dame würdig war.
    Zwei Monate gingen so ins Land, dann kam die Dame wieder einmal zu Alexander und saß an ihrem üblichen Platz.
    »Warum bist du so traurig?«, fragte sie, denn es war nicht zu übersehen, dass den Ritter etwas bekümmerte.
    »Ich kann mein Bild nicht vollenden«, sagte er.
    »Warum nicht? Du hast doch Pinsel und Farbe. Was brauchst du mehr?«
    Alexander drehte das Bild herum, sodass die Dame es sehen konnte. Das Bild zeigte sie selbst, doch das Gesicht war ein weißer Fleck, da Alexander es nie zu sehen bekommen hatte.
    »Verzeiht mir«, sagte er, »aber ich habe mich in Euch verliebt. In diesen vielen Wochen, die wir miteinander verbracht haben, habe ich so viel über Euch erfahren. Ich bin noch nie einer Frau wie Euch begegnet, und ich fürchte, wenn ich von hier fortgehe, wird es auch nie wieder geschehen. Darf ich hoffen, dass Ihr ähnliche Gefühle für mich hegt?«
    Die Dame senkte den Kopf. Sie schien etwas sagen zu wollen, doch dann schimmerte der Spiegel, und sie verschwand.
    Tage gingen vorbei, ohne dass die Dame wieder erschien. Alexander war allein und fragte sich, ob er sie mit seinen Worten und Gesten verletzt hatte. Jede Nacht schlief er tief und fest, und jeden Morgen stand Essen für ihn bereit, aber niemals erhaschte er einen Blick auf die Dame, die es ihm brachte.
    Dann, nach fünf Tagen, hörte er, wie der Schlüssel im Schloss seiner Tür herumgedreht wurde, und die Dame kam herein. Sie war noch immer verschleiert und ganz in Schwarz gekleidet, aber Alexander spürte, dass sich etwas an ihr verändert hatte.
    »Ich habe über deine Worte nachgedacht«, sagte sie. »Auch ich habe Gefühle für dich. Aber sag mir eins und sei ehrlich: Liebst du mich wirklich? Wirst du mich immer lieben, ganz gleich, was geschieht?«
    Irgendwo in Alexanders tiefstem Inneren lebte noch die Unbedachtheit der Jugend, denn er antwortete, ohne nachzudenken: »Ja, ich werde Euch immer lieben.«
    Da hob die Dame ihren Schleier, und Alexander erblickte zum ersten Mal ihr Gesicht. Es war das einer Kreuzung zwischen einer Frau und einem wilden Tier aus den Wäldern, einer Pantherin oder Tigerin. Alexander öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus, so entsetzt war er von dem Anblick.
    »Das ist das Werk meiner Stiefmutter«, sagte die Dame. »Ich war schön, und sie beneidete mich um meine Schönheit, deshalb hat sie mir die Züge eines Tieres angehext und prophezeit, niemand würde mich jemals lieben. Ich glaubte ihr, und so habe ich mich voller Scham versteckt, bis du kamst.«
    Die Dame trat mit ausgestreckten Armen auf Alexander zu, und ihre Augen waren erfüllt von Hoffnung und Liebe und einem leisen, angstvollen Flackern, denn sie hatte sich ihm geöffnet, wie sie sich noch niemals einem menschlichen Wesen geöffnet hatte, und nun lag ihr Herz nackt und ungeschützt da wie vor einer scharfen Klinge.
    Doch Alexander kam nicht zu ihr. Er wich zurück, und in diesem Augenblick war sein Schicksal besiegelt.
    »Elender Lügner!«, schrie die Dame. »Wankelmütiger Nichtsnutz! Du hastgesagt, du liebst mich, aber du liebst nur dich selbst.«
    Sie hob den Kopf und fletschte ihre scharfen Zähne. Die Spitzen ihrer Handschuhe zerrissen, als lange Krallen aus ihren Fingern fuhren. Mit einem Brüllen sprang sie auf den Ritter los, biss ihn, zerkratzte ihn, schlitzte ihn mit ihren Krallen auf, bis sie sein warmes Blut auf der Zunge schmeckte, es über ihr Fell rinnen spürte.
    Sie riss ihn dort im Schlafgemach in Stücke, und sie weinte, als sie ihn verschlang.
     
     
    Die beiden Mädchen sahen ziemlich schockiert aus, als Roland seine Geschichte beendete. Er stand auf, dankte Fletcher und seiner Familie für das Mahl und bedeutete David, dass es Zeit war zu gehen. An der Tür fasste Fletcher Roland sanft am Arm.
    »Auf ein Wort noch, bitte«, sagte er. »Die Dorfältesten sind in Sorge. Sie befürchten, dass das Ungeheuer, von dem du sprachst, über das Dorf herfällt, denn es ist offenbar ganz in der Nähe.«
    »Habt ihr Waffen?«, fragte Roland.
    »Schon, aber du hast sie ja gesehen. Wir sind Bauern und Jäger, keine Soldaten«, sagte Fletcher.
    »Womöglich ist das sogar von Vorteil«, meinte Roland. »Die Soldaten konnten nicht viel gegen das Ungeheuer ausrichten. Vielleicht habt ihr mehr Glück.«
    Fletcher sah ihn verwirrt an, unsicher, ob Roland es ernst meinte oder ihn auf den Arm nahm. Selbst David war

Weitere Kostenlose Bücher