Das Buch der verlorenen Dinge
von ihrer Stellung hinter den Mauern in die Flucht zu schlagen oder zu töten. Wenn es die Abwehr durchbrach, sollten sie sich zurückziehen und das Ungeheuer so in die Mitte des Dorfes locken. Dann sollten die Lunten entzündet werden, und das Ungeheuer würde in der Falle verbrennen. Doch dies war nur als allerletzte Notlösung gedacht. Die Dorfleute stimmten über den Vorschlag ab, und alle waren sich einig, dass dies der beste Plan war.
Aufgebracht stürmte Roland aus der Kirche. David musste hinterherlaufen, um ihn einzuholen.
»Warum bist du so wütend?«, fragte David. »Sie haben doch dem größten Teil deines Plans zugestimmt.«
»Das genügt aber nicht«, sagte Roland. »Wir wissen noch nicht einmal, womit wir es zu tun haben. Was wir wissen, ist, dass erfahrene und mit guten Waffen ausgerüstete Soldaten nichts gegen dieses Wesen ausrichten konnten. Welche Aussichten haben dann ein paar Bauern? Hätten sie auf mich gehört, hätten sie das Ungeheuer vielleicht ohne Gefahr für Leib und Leben besiegen können. So aber werden Männer unnötig sterben, und das wegen ein paar Holzhütten, die man innerhalb weniger Wochen wieder aufbauen könnte.«
»Aber es ist ihr Dorf«, sagte David. »Und ihre Entscheidung.«
Roland verlangsamte seinen Schritt und blieb dann stehen. Sein Haar war weiß von Schnee. Es ließ ihn viel älter aussehen, als er war.
»Ja«, sagte er, »es ist ihr Dorf. Aber unser Schicksal ist jetzt mit ihrem verbunden, und wenn der Plan scheitert, ist es gut möglich, dass wir zum Dank für unsere Mühe zusammen mit ihnen sterben.«
Es schneite weiter, in den Häusern knisterte das Feuer, und der Wind trug den Geruch des Rauches bis in die dunkelsten Tiefen des Waldes.
Und das Ungeheuer in seiner Höhle witterte den Rauch und setzte sich in Bewegung.
21
Vom Angriff des Ungeheuers
Diesen ganzen Tag und auch den nächsten verbrachten die Leute mit Vorbereitungen für die Evakuierung des Dorfes. Die Frauen, Kinder und Alten sammelten alles, was sie tragen konnten, und jeder Karren und jedes Pferd wurde in Dienst genommen, außer Scylla, denn Roland wollte sie nicht aus den Augen lassen. Er ritt die Mauer ab, von außen wie von innen, und überprüfte sie auf Schwachstellen. Was er sah, gefiel ihm nicht. Es schneite immer noch, und die Kälte betäubte Finger und Füße. Das machte die Aufgabe, die Verteidigungsanlagen zu verstärken, nicht gerade angenehmer, und die Männer murrten vor sich hin, fragten sich, ob all diese Vorbereitungen wirklich nötig waren, und überlegten, ob es nicht besser gewesen wäre, zusammen mit den Frauen und Kindern zu fliehen. Selbst Roland schien Zweifel zu bekommen. »Im Grunde könnten wir genauso gut versuchen, diese Kreatur mit Splittern und Feuerholz zu bekämpfen«, hörte David ihn zu Fletcher sagen. Da sie nicht wussten, aus welcher Richtung der Angriff kommen würde, bläute Roland den Verteidigern immer wieder ihre Rückzugswege und Aufgaben ein, für den Fall, dass das Ungeheuer die Mauer durchbrach und in das Dorf eindrang – wovon er ausging. Er wollte nicht, dass die Männer in Panik ausbrachen und blindlings davonliefen, denn dann wäre alles verloren, aber er hatte wenig Vertrauen in ihre Bereitschaft, sich dem Ungeheuer entgegenzustellen, wenn sich das Blatt gegen sie wendete.
»Sie sind keine Feiglinge«, sagte Roland zu David, während sie am Feuer saßen und Milch tranken, noch warm von der Kuh. Überall um sie herum waren die Männer dabei, Speere zu schnitzen und Schwerter zu schärfen oder mithilfe eines Ochsen- oder Pferdegespanns Baumstämme herbeizuschaffen, um die Mauer von innen zu verstärken. Sie sprachen nur wenig, denn der Tag ging zur Neige und die Dunkelheit nahte. Alle waren angespannt und hatten Angst. »Jeder dieser Männer würde seine Frau und seine Kinder mit dem Leben verteidigen«, fuhr Roland fort. »Wenn es um Räuber oder Wölfe oder wilde Tiere ginge, würden sie sich mutig der Gefahr stellen und auf Leben oder Tod kämpfen. Aber das hier ist anders: Sie wissen nicht, was auf sie zukommt, und sie sind nicht diszipliniert und erfahren genug, um gemeinsam zu kämpfen. Sie halten zwar nach außen zusammen, aber im Innern steht jeder von ihnen diesem Wesen allein gegenüber. Einigkeit wird es nur geben, wenn einer den Mut verliert und davonläuft und alle anderen ihm folgen.«
»Du hast nicht viel Vertrauen in andere Menschen, nicht wahr?«, wollte David wissen.
»Ich habe generell nicht viel
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