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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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auf seine Haut, hoben die Wangenknochen hervor und vertieften die Dunkelheit seiner Augenhöhlen.
    »Was meinst du, was mit Raphael geschehen ist?«, fragte David ihn.
    Roland antwortete nicht. Er schüttelte nur den Kopf.
    David wusste, dass es wahrscheinlich klüger wäre, den Mund zu halten, aber er wollte nicht. Er schlug sich mit allerlei Fragen und Zweifeln herum, und irgendwie spürte er, dass es Roland ähnlich ging. Es war kein Zufall, dass sie einander begegnet waren. Nichts in diesem Land schien allein den Regeln des Zufalls zu gehorchen. Alles, was geschah, hatte einen Sinn, folgte einem Muster, auch wenn David auf seinem Weg nur Bruchstücke davon erkennen konnte.
    »Du glaubst, dass er tot ist, nicht wahr?«, sagte er leise. »Ja«, erwiderte Roland. »In meinem Herzen fühle ich es.«
    »Aber du musst herausfinden, was mit ihm geschehen ist.«
    »Ich werde keinen Frieden finden, solange ich es nicht weiß.«
    »Aber du könntest dabei ebenfalls sterben. Wenn du diesen Weg weitergehst, endest du vielleicht genau wie er. Hast du keine Angst vorm Sterben?«
    Roland nahm einen Stock und stocherte damit im Feuer herum, dass die Funken gen Himmel stoben. Sie verloschen alsbald wie Insekten, die bereits von den Flammen verzehrt werden, während sie noch zu entfliehen versuchen.
    »Ich habe Angst vor dem Schmerz des Sterbens«, sagte er. »Ich bin bereits mehrmals verwundet worden, einmal so schwer, dass ich dachte, ich würde es nicht überleben. Ich erinnere mich noch gut an die Schmerzen, und das möchte ich nicht noch einmal ertragen müssen.
    Aber mehr noch hatte ich Angst vor dem Tod der anderen. Ich wollte sie nicht verlieren, und ich habe mir ständig Sorgen gemacht, während sie noch lebten. Manchmal denke ich, ich war so sehr mit der Möglichkeit ihres Verlusts beschäftigt, dass ich die Zeit, als sie da waren, nie wirklich genossen habe. So ging es mir immer, selbst mit Raphael. Dabei war er das Blut in meinen Adern und der Schweiß auf meiner Stirn. Ohne ihn bin ich weniger, als ich einst war.«
    David blickte in die Flammen. Rolands Worte hallten in ihm wider. Genauso war es ihm mit seiner Mutter gegangen. Er hatte sich zum Ende hin so sehr mit Angst vor ihrem Tod gequält, dass die Zeit, die sie noch miteinander gehabt hatten, wie im Nebel an ihm vorübergezogen war.
    »Und du?«, fragte Roland. »Du bist noch ein Junge. Und du gehörst nicht hierher. Hast du keine Angst?«
    »Doch«, sagte David. »Aber ich habe die Stimme meiner Mutter gehört. Sie ist hier irgendwo. Ich muss sie finden. Ich muss sie nach Hause bringen.«
    »David, deine Mutter ist tot«, sagte Roland sanft. »Das hast du mir selbst erzählt.«
    »Aber wie kann sie dann hier sein? Wie kann es sein, dass ich ihre Stimme so klar und deutlich gehört habe?«
    Doch darauf wusste Roland keine Antwort, und in David machten sich Ärger und Enttäuschung breit.
    »Was ist das hier für ein Land?«, fragte er aufgebracht. »Es hat keinen Namen. Nicht einmal du kannst mir sagen, wie es heißt. Es hat einen König, aber der besitzt keinerlei Macht. Überall sind Dinge, die nicht hierher gehören: der Panzer, das Flugzeug, das mir durch den Baum gefolgt ist, die Harpyen – das ergibt alles keinen Sinn. Es ist fast, als ob…«
    Er verstummte. In seinem Kopf formten sich Worte wie eine dunkle Gewitterwolke an einem Sommertag, voller Hitze und Zorn und Verwirrung. Die Frage tauchte wie aus dem Nichts auf, und er war beinahe überrascht, seine eigene Stimme zu hören.
    »Roland, bist du tot? Sind wir tot?«
    Roland sah durch die Flammen zu ihm auf.
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte er. »Ich glaube, ich bin lebendig, genau wie du. Ich fühle Kälte und Wärme, Hunger und Durst, Verlangen und Bedauern. Ich spüre das Gewicht eines Schwertes in meiner Hand, und meine Haut trägt die Spuren meiner Rüstung, wenn ich mich abends entkleide. Ich schmecke Brot und Fleisch. Ich rieche Scylla an mir, wenn ich einen Tag im Sattel gesessen habe. Wenn ich tot wäre, würde ich solche Dinge doch nicht mehr wahrnehmen, oder?«
    »Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte David. Er hatte keine Ahnung, wie die Toten sich fühlten, nachdem sie von einer Welt in die nächste übergewechselt waren. Wie sollte er auch? Er wusste nur, dass die Haut seiner Mutter sich kalt angefühlt hatte, während sein eigener Körper warm war. Wie Roland konnte er riechen und fühlen und schmecken. Er spürte Schmerz und Unbehagen. Er fühlte die Hitze des Feuers, und er war

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