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Das Buch der verlorenen Dinge

Das Buch der verlorenen Dinge

Titel: Das Buch der verlorenen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Connolly
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Junge nahm sie, und Roland zog ihn hoch.
    »Es tut mir leid«, sagte David.
    »Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest«, sagte Roland. »Aber jetzt hol deine Sachen, denn das Ende unserer Reise ist nah.«
    Sie waren nur ein kurzes Stück geritten, als sich die Luft plötzlich änderte. Die Haare auf Davids Kopf und Armen standen zu Berge. Es knisterte, wenn er sie berührte. Der Wind trug einen merkwürdigen Geruch von Westen herüber, modrig und trocken, wie im Innern einer Gruft. Das Land stieg an, bis sie auf den Kamm eines Hügels kamen, von dem sie hinuntersahen.
    Vor ihnen lag der dunkle Umriss einer Festung, wie ein Fleck im weißen Schnee. Für David war es tatsächlich eher ein Umriss als eine richtige Festung, denn etwas an dem Gebilde war sehr eigenartig. Es hatte einen Turm in der Mitte und eine Mauer und Nebengebäude, aber alles war ein wenig verwischt, wie die Linien eines Aquarells, das auf feuchtem Papier gemalt war. Das Ding stand mitten im Wald, aber alle Bäume drum herum waren umgestürzt, als hätte es eine gewaltige Explosion gegeben. Hier und dort sah David etwas Metallisches an den Zinnen aufblitzen. Vögel kreisten darüber, und der seltsame Geruch wurde stärker.
    »Aasvögel«, sagte Roland. »Sie fressen die Toten.«
    David wusste, was er dachte: Raphael hatte diesen Ort betreten und war nicht zurückgekehrt.
    »Vielleicht solltest du hierbleiben«, sagte Roland. »Das ist sicherer für dich.«
    David blickte sich um. Die Bäume hier waren anders als die, die er bisher gesehen hatte. Sie waren knorrig und schief, die Rinde abgeblättert und voller Löcher. Sie sahen aus wie alte, vor Schmerz erstarrte Männer und Frauen. Er wollte nicht allein zwischen ihnen zurückbleiben.
    »Sicherer?«, sagte David. »Die Wölfe sind hinter mir her, und wer weiß, was noch so alles in diesem Wald lebt. Wenn du mich hier zurücklässt, laufe ich zu Fuß hinter dir her. Wer weiß, vielleicht kann ich dir da drinnen ja sogar nützlich sein. Ich habe dich nicht enttäuscht, als das Ungeheuer mich im Dorf verfolgt hat, und jetzt werde ich dich auch nicht enttäuschen«, sagte er entschlossen.
    Roland wandte nichts dagegen ein. Gemeinsam ritten sie auf die Festung zu. Während der Wald an ihnen vorüberzog, hörten sie flüsternde Stimmen. Sie schienen aus dem Innern der Bäume zu kommen und durch die Löcher in der Rinde nach außen zu dringen, aber ob es die Stimmen der Bäume selbst waren oder ob sie von irgendwelchen unsichtbaren Wesen in ihrem Innern stammten, konnte David nicht sagen. Zweimal meinte er, eine Bewegung hinter den Löchern wahrzunehmen, und einmal war er überzeugt, dass ihn Augen aus den Tiefen eines Stammes angestarrt hatten, aber als er Roland davon erzählte, sagte der nur: »Hab keine Angst. Was für Wesen das auch immer sein mögen, sie haben nichts mit der Festung zu tun. Sie gehen uns nichts an, solange sie uns in Ruhe lassen.«
    Dennoch zog er sein Schwert und legte es an Scyllas Flanke, damit er es jederzeit einsetzen konnte.
    Der Wald war so dicht, dass sie die Festung aus den Augen verloren, während sie hindurchritten, und so war es für David ein Schock, als sie schließlich auf das verwüstete Gelände mit den umgestürzten Bäumen hinaustraten. Die Wucht der Explosion, oder was immer es gewesen war, hatte die Bäume aus der Erde gerissen, sodass ihre Wurzeln über tiefen Löchern bloß lagen. Mittendrin stand die Festung, und jetzt konnte David auch erkennen, warum sie aus der Ferne so verschwommen ausgesehen hatte: Sie war vollständig von braunen Ranken überwuchert, die sich um den Turm schlangen und sämtliche Mauern und Zinnen bedeckten, und aus den Ranken ragten dunkle Dornen, einige mindestens einen Fuß lang und dicker als Davids Arm. Theoretisch wäre es zwar möglich, die Mauern mithilfe der Ranken zu erklimmen, aber eine falsche Bewegung, und einer der Dornen bohrte sich in Arm oder Bein, oder, schlimmer noch, in Kopf oder Herz.
    Sie ritten um die Festung herum, bis sie zum Tor kamen. Es stand offen, aber die Ranken versperrten den Zutritt. Durch die Lücken zwischen den Dornen konnte David einen Innenhof sehen und eine geschlossene Tür am Fuß des Turms. Auf dem Boden davor lag eine Rüstung, aber ohne Helm und ohne Kopf.
    »Roland«, sagte David. »Der Ritter da…«
    Doch Roland schaute nicht auf das Tor oder den Ritter. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte zu den Zinnen hinauf. David folgte seinem Blick und begriff, was aus der

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