Das Buch der verlorenen Dinge
gaben sich die Hand. David weinte nicht. Er wollte so tapfer sein, wie Roland ihm erschien. Erst später fragte er sich, ob Roland wirklich tapfer war. Roland glaubte, dass Raphael tot war, und er wollte sich an demjenigen rächen, der ihn getötet hatte. Aber als Roland auf die Festung zuging, spürte David auch, dass ein Teil des Ritters nicht ohne Raphael leben wollte und dass ihm der Tod immer noch lieber war als ein Leben ohne ihn.
David begleitete Roland bis zum Tor. Als sie näher kamen, sah Roland voller Unbehagen zu den Dornen hoch, als fürchtete er, sie würden sich wieder schließen, sobald er in ihrer Reichweite war. Doch sie rührten sich nicht, und Roland ging ohne Zwischenfälle durch die Öffnung. Er trat über die Rüstung des Ritters hinweg und öffnete die Tür zu dem Turm. Dort drehte er sich noch einmal zu David um und hob das Schwert zu einem letzten Gruß, dann verschwand er in der Dunkelheit. Die Ranken und Dornen schoben sich sofort wieder über die Öffnung und verwehrten jeden weiteren Zugang zum Innenhof. Dann herrschte nur noch Stille.
Der Krumme Mann beobachtete das Ganze von seinem Ausguck auf dem obersten Ast des höchsten Baumes im Wald. Die Wesen, die im Innern der Stämme hausten, störten ihn nicht, denn vor ihm hatten sie mehr Angst als vor beinahe jeder anderen Kreatur in diesem Land. Und die Zauberin in der Dornenfestung war zwar alt und grausam, aber der Krumme Mann war noch älter und noch grausamer. Er blickte hinunter auf den Jungen, der beim Feuer saß. Scylla stand dicht neben ihm, nicht angebunden, denn sie war ein mutiges, intelligentes Pferd, das nicht schreckhaft war und seinen Reiter nicht im Stich ließ. Der Krumme Mann überlegte, ob er noch einmal zu David gehen und ihn nach dem Namen des Kindes fragen sollte, doch er entschied sich dagegen. Eine Nacht allein am Waldrand, direkt unterhalb der Dornenfestung mit den aufgespießten Schädeln der toten Ritter, würde ihn zugänglicher für einen Handel am nächsten Morgen machen.
Denn der Krumme Mann wusste, dass Roland die Festung niemals lebend verlassen würde, und damit war David wieder einmal allein in dieser Welt.
Für David zog sich die Zeit endlos hin. Er hielt das Feuer am Brennen und wartete darauf, dass Roland zurückkam. Ab und zu stupste Scylla ihn sanft in den Nacken, als wollte sie ihn an ihre Anwesenheit erinnern. David war froh, dass die Stute da war. Ihre Kraft und ihre Treue gaben ihm ein beruhigendes Gefühl.
Doch die Müdigkeit überkam ihn, und sein Verstand spielte ihm Streiche. Immer wieder nickte er für einen kurzen Moment ein, und sofort begann er zu träumen. Er sah Bilder von zu Hause, und Ereignisse der letzten Tage stiegen wieder hoch, und Wölfe und Zwerge und die Jungen des Ungeheuers verwoben sich zu einer einzigen Geschichte. Er hörte die Stimme seiner Mutter, die nach ihm rief, wie sie es in ihren letzten Tagen bisweilen getan hatte, wenn die Schmerzen zu stark wurden, und dann wurde ihr Gesicht durch das von Rose ersetzt, genau wie Georgie seinen Platz im Herzen seines Vaters eingenommen hatte.
Aber stimmte das denn? Ihm wurde plötzlich bewusst, dass er Georgie vermisste, und das Gefühl kam so überraschend, dass er beinahe aufgewacht wäre. Er erinnerte sich daran, wie der Kleine ihn angestrahlt, wie er Davids Finger mit seiner winzigen Faust umklammert hatte. Ja, er war laut und übelriechend und anstrengend, aber so waren alle Babys. Dafür konnte Georgie nichts.
Dann verschwand das Bild von Georgie, und David sah Roland, wie er mit dem Schwert in der Hand durch einen langen, dunklen Gang schritt. Er befand sich im Turm, aber der Turm selbst war eine Art Trugbild, sein Inneres bestand aus zahllosen Gängen und Räumen, und in jedem von ihnen lauerte eine Falle. Roland betrat eine große, runde Kammer, und im Traum sah David, wie Rolands Augen sich ungläubig weiteten. Die Mauern färbten sich rot, und plötzlich rief etwas aus der Finsternis Davids Namen…
David schrak hoch. Er saß immer noch am Feuer, aber die Flammen waren fast erloschen. Roland war nicht zurückgekommen. David stand auf und ging zum Tor der Festung. Scylla wieherte nervös, als er sich entfernte, aber sie blieb, wo sie war. David stand eine Weile ratlos vor dem Tor, dann streckte er den Zeigefinger aus und berührte vorsichtig einen der Dornen. Augenblicklich lösten sich die Ranken, die Dornen wichen zurück, und eine Öffnung tat sich vor ihm auf. David blickte über die Schulter zu
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