Das Buch der verlorenen Dinge
Scylla und den Überresten des Feuers. Ich sollte mich auf den Weg machen, dachte er. Jetzt gleich, nicht erst am Morgen. Scylla wird mich zum König bringen, und er wird mir sagen, was ich tun soll.
Doch er rührte sich nicht von der Stelle. Trotz der Anweisungen, die Roland ihm für den Fall, dass er nicht zurückkommen sollte, gegeben hatte, wollte David seinen Freund nicht im Stich lassen. Und während er noch unschlüssig vor den Dornenranken stand, hörte er eine Stimme, die ihn rief.
»David«, sagte sie. »Komm zu mir, bitte komm zu mir.«
Es war die Stimme seiner Mutter.
»Ich bin hier gefangen«, fuhr die Stimme fort. »Als ich so krank war, schlief ich ein, und da glitt ich von unserer Welt in diese. Jetzt bewacht sie mich. Ich kann nicht aufwachen, und ich kann ihr nicht entkommen. Bitte hilf mir, David. Wenn du mich liebst, dann hilf mir…«
»Mama«, sagte David. »Ich habe Angst.«
»Du bist so weit gekommen, und du warst so tapfer«, sagte die Stimme. »Ich habe dich in meinen Träumen gesehen. Ich bin so stolz auf dich, David. Nur noch ein kleines Stück. Nur noch ein klein wenig Mut, mehr verlange ich nicht.«
David griff in seinen Beutel und tastete nach der Kralle des Ungeheuers. Er umschloss sie fest mit der Hand und dachte an Fletchers Worte. Wenn er einmal tapfer gewesen war, konnte er es für seine Mutter auch ein zweites Mal sein. Er schob die Kralle in seine Hosentasche. Als der Krumme Mann, der ihn immer noch vom Baumwipfel aus beobachtete, begriff, was geschah, setzte er sich in Bewegung. Er sprang von Ast zu Ast und landete geschmeidig wie eine Katze auf dem Boden, aber er kam zu spät. David war durch das Tor in die Festung getreten, und hinter ihm hatte sich das Dornengewirr wieder geschlossen.
Der Krumme Mann brüllte vor Zorn, doch David, den die Festung verschlungen hatte, hörte ihn nicht.
25
Von der Zauberin, und was mit Raphael
und Roland geschah
Der Innenhof war mit schwarzen und weißen Steinen gepflastert, gesprenkelt vom Kot der Aasvögel, die während des Tages über der Festung kreisten. Eine Steintreppe führte hinauf zu den Zinnen, an deren Fuß Gestelle mit Waffen aufgereiht waren. Doch die Lanzen, Schwerter und Schilde darin waren verrostet und offenbar seit langem nicht mehr benutzt worden. Einige der Waffen wiesen kunstvolle Verzierungen auf, fein geschmiedete Spiralen und Geflechte aus Silber und Bronze, deren Muster sich auf den Schwertgriffen und Schilden wiederholte. David wunderte sich, wie etwas so Schönes an einen so düsteren, bedrohlichen Ort gelangt war. Aber vielleicht war die Festung ja nicht immer so gewesen. Vielleicht hatte sich etwas Bösartiges ihrer bemächtigt, ein Kuckuck, der sie in ein dorniges, undurchdringliches Nest verwandelt hatte, und die ursprünglichen Bewohner waren entweder gestorben oder geflohen.
Nun, da er im Innern stand, sah David Spuren der Zerstörung, vor allem Löcher und Risse in den Mauern, die offenbar von Kanonenkugeln stammten. Die Festung war unzweifelhaft sehr alt, doch die umgestürzten Bäume drum herum schienen die merkwürdige Geschichte zu bestätigen, die Roland und Fletcher erzählt hatten: Die Festung konnte durch die Luft fliegen und wechselte mit dem Zyklus des Mondes ihren Standort.
Am Fuß der Mauern befanden sich Stallungen, doch sie waren verlassen und verströmten nicht den würzigen Tiergeruch, den solche Gebäude im Lauf der Zeit annahmen. In den Verschlägen lagen nur noch die Knochen der Pferde, die nach dem Tod ihres Herrn dort verhungert waren, und über allem hing der fade Hauch der Verwesung. Rechts und links neben dem Mittelturm standen zwei niedrige Gebäude, vermutlich das Quartier der Wachleute und die Küche. David spähte vorsichtig durch die Fensteröffnungen, konnte jedoch keinerlei Lebenszeichen feststellen. Im Wachquartier standen nur ein paar Bettgestelle, und die Herde in der Küche waren kalt. Auf den Tischen waren Teller und Becher gedeckt, als wären diejenigen, die dort gesessen hatten, beim Essen gestört worden und nie zurückgekehrt.
David ging auf die Tür des Turms zu. Der tote Ritter lag davor, das Schwert noch in der riesigen Hand. Die Klinge war nicht verrostet, und die Rüstung des Ritters schimmerte im Mondlicht. In einer Öffnung des Schulterstücks steckte eine kleine weiße Blume, die erst halb verwelkt war, woraus David schloss, dass der Tote noch nicht sehr lange dort liegen konnte. Seltsamerweise war weder am Hals des Toten noch am Boden
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