Das Buch der verlorenen Dinge
Ferne so geglänzt hatte.
Auf den obersten Dornen waren Männerköpfe aufgespießt, den toten Blick nach außen gewandt. Einige trugen noch ihren Helm, aber das Visier war hochgeklappt oder abgerissen, damit man ihren Gesichtsausdruck sehen konnte. Von den meisten war kaum mehr als der Schädel übrig, und obgleich drei oder vier von ihnen noch als Männer erkennbar waren, sah es aus, als hätten sie kein Fleisch mehr im Gesicht, nur noch eine graue, papierdünne Haut direkt auf dem Knochen. Roland musterte der Reihe nach jeden einzelnen der toten Männer oben auf den Zinnen. Als er fertig war, wirkte er erleichtert. »Raphael ist nicht unter denen, die man noch erkennen kann«, sagte er. »Ich kann weder sein Gesicht noch seine Rüstung sehen.«
Er saß ab und ging auf das Tor zu. Mit dem Schwert hieb er einen der Dornen ab. Er fiel zu Boden, und sofort wuchs ein neuer nach, noch länger und dicker als der, der abgetrennt worden war. Er wuchs so schnell, dass er sich Roland in die Brust gebohrt hätte, wäre dieser nicht im letzten Moment zur Seite gesprungen. Als Nächstes versuchte Roland, die Ranke selbst durchzuschlagen, doch sein Schwert verursachte kaum mehr als einen Ritz, und auch dieser verschloss sich sofort wieder.
Roland trat zurück und schob das Schwert wieder in die Scheide.
»Es muss einen Weg hinein geben«, sagte er. »Wie sonst sollte der Ritter dort hineingekommen sein, bevor er starb? Wir werden warten. Warten und die Augen aufhalten. Vielleicht enthüllt sich uns das Geheimnis mit der Zeit.« Sie schlugen ihr Lager auf, machten ein kleines Feuer, um die Kälte zu vertreiben, und beobachteten schweigend und voller Unbehagen die Dornenfestung.
Die Nacht brach herein, oder vielmehr das dunklere Zwielicht, das die Schatten des Tages vertiefte und in dieser Welt als Nacht galt. Das Flüstern im Wald, das sie während ihrer Erkundungstour um die Festung begleitet hatte, verstummte mit einem Schlag, als der Mond aufging. Die Aasvögel verschwanden. David und Roland waren allein.
Im obersten Fenster des Turms ging ein Licht an, und kurz darauf erschien eine Gestalt in der Öffnung. Sie blieb stehen und schien auf den Mann und den Jungen hinunterzublicken, dann verschwand sie wieder.
»Ich hab’s gesehen«, sagte Roland, bevor David etwas sagen konnte.
»Es sah aus wie eine Frau«, sagte David.
Das musste die Zauberin sein, dachte er, die die schlafende Frau in dem Turm bewacht. Das Mondlicht schien auf die Helme der aufgespießten Männerköpfe und erinnerte ihn an die Gefahr, die ihm und Roland drohte. Sie alle mussten bewaffnet gewesen sein, als sie die Festung betraten, und doch waren sie gestorben. Der tote Ritter, der im Innenhof lag, war riesig, mindestens einen Fuß größer als Roland und fast doppelt so breit. Wer auch immer diesen Turm bewachte, war stark und schnell und sehr, sehr grausam.
Dann begannen sich die Ranken und Dornen, die den Eingang versperrten, plötzlich zu bewegen. Nach und nach zogen sie sich zurück, bis eine mannsgroße Öffnung entstanden war. Sie sah aus wie ein offener Mund, die langen Dornen drum herum wie Zähne, die nur darauf warteten zuzubeißen.
»Es ist eine Falle«, sagte David. »Ganz bestimmt.«
Roland erhob sich.
»Was habe ich für eine Wahl?«, meinte er. »Ich muss herausfinden, was mit Raphael geschehen ist. Ich bin nicht den ganzen Weg hierhergekommen, um auf dem Boden zu sitzen und Mauern und Dornen anzustarren.«
Er schob sich den Schild über den linken Arm. Auf seinem Gesicht lag keine Angst. Im Gegenteil. Er erschien David sogar glücklicher als je zuvor. Er war aus seinen fernen Ländereien hierher gereist, um eine Erklärung für das Verschwinden seines Freundes zu finden, gequält von düsteren Vermutungen. Was immer nun innerhalb der Festungsmauern passieren mochte, ob er lebte oder starb, er würde endlich die Wahrheit über das Ende von Raphaels Reise erfahren.
»Bleib hier und halte das Feuer am Brennen«, sagte Roland. »Wenn ich bis Tagesanbruch nicht zurück bin, nimm Scylla und reite, so schnell du kannst, von hier fort. Scylla ist jetzt ebenso dein Pferd wie meines, denn ich glaube, sie hat dich genauso ins Herz geschlossen wie mich. Bleib immer auf dieser Straße, dann kommst du irgendwann zur Burg des Königs.«
Er lächelte zu David hinunter. »Es war mir eine Ehre, diesen Weg mit dir zu teilen. Falls wir uns nicht Wiedersehen sollten, hoffe ich, dass du dein Zuhause findest und die Antworten, die du suchst.«
Sie
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