Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2
diesen Worten warf er ihr einen tückischen, entsetzlichen Blick zu, denn sein düsterer Geist brütete Übles aus.
Da begann Tinúviel einen Tanz wie nie zuvor, und weder sie noch ein anderes Geisterwesen, keine Fee und keine Elfe, haben seitdem je so getanzt; und nach einer Weile war selbst Melkos Blick vor Staunen wie gebannt. Geschwind wie eine Schwalbe, lautlos wie eine Fledermaus, bezaubernd schön, wie nur Tinúviel es sein konnte, huschte sie durch die Halle, nun an Melkos Seite, nun vor ihm, jetzt wieder hinter ihm, und ihre hauchdünnen Gewänder berührten sein Gesicht, wehten vor seinen Augen, und jene, die dort an den Wänden saßen oder standen, fielen einer nach dem anderen in Schlaf, versanken in tiefe Träume, die alles versprachen, wonach ihre bösen Herzen verlangten.
Unter Melkos Sitz lagen die Nattern wie versteinert, und die Wölfe zu seinen Füßen gähnten und entschlummerten, und Melko starrte sie wie gebannt an, doch er schlief nicht ein. Da begann Tinúviel vor seinen Augen einen noch schnelleren Tanz, und während sie tanzte, sang sie mit sehr leiser undinniger Stimme ein Lied, das Gwendeling sie vor langer Zeit gelehrt hatte, ein Lied, das die Knaben und Mädchen unter den Zypressen in den Gärten von Lórien gesungen hatten, als der Goldene Baum fahl geworden war und Silpion geleuchtet hatte. Die Stimmen von Nachtigallen waren darin, und viele zarte Düfte schienen die Luft dieses stinkenden Ortes zu erfüllen, während sie, leichter als eine Feder im Wind, über den Boden schwebte; nie wieder hat man eine solche Stimme gehört und solche Schönheit mit Augen gesehen, und trotz all seiner Macht und Erhabenheit erlag der Ainu Melko dem Zauber dieses Elbenmädchens, und wahrlich, sogar Lóriens Lider wären schwer geworden, hätte er ihr zugeschaut. Dann sank Melko schläfrig nach vorn und glitt schließlich in tiefstem Schlaf von seinem Sitz auf den Boden, und seine eiserne Krone rollte davon.
Jäh brach Tinúviel ihren Tanz ab. Außer den Atemzügen der Schlafenden war kein Laut in der Halle zu hören; selbst Beren schlief unter Melkos Sitz, doch Tinúviel rüttelte ihn, bis er endlich aufwachte. Dann riss er angstvoll und zitternd seine Verkleidung entzwei, befreite sich davon und sprang auf die Füße. Nun zog er das Messer von Tevildos Küche hervor und ergriff die mächtige eiserne Krone, doch Tinúviel konnte sie nicht bewegen, und selbst die Muskeln Berens vermochten es kaum, sie zu drehen. Rasende Angst erfüllt sie, während Beren in der dunklen Halle des schlafenden Bösen sich abmüht, so geräuschlos wie möglich mit seinem Messer einen Silmaril aus der Krone zu brechen. Nun lockert er den großen Edelstein in der Mitte, und der Schweiß rinnt von seiner Stirn, aber gerade als er ihn gewaltsam aus der Krone löst – da zerbricht sein Messer mit einem lauten Krachen!
Tinúviel unterdrückt einen Schrei, und Beren, den einen Silmaril in der Hand, springt davon, und die Schläfer rührensich, und Melko stöhnt, als ob böse Gedanken seine Träume heimsuchen, und ein schwarzer Schatten legt sich über sein schlafendes Gesicht. Zufrieden nun mit der einen blitzenden Gemme, flohen die zwei verzweifelt aus der Halle, stolperten wild durch viele dunkle Gänge, bis ein Schimmer von grauem Licht ihnen zeigte, dass sie sich den Toren näherten – doch ach, Karkaras lag quer über der Schwelle, wieder wach und aufmerksam.
Ohne Zögern warf Beren sich vor Tinúviel, obgleich sie ihn davon abzuhalten suchte, und das erwies sich am Ende als unheilvoll, denn ihr blieb keine Zeit, erneut ihren Schlummerzauber auf das Untier zu legen, denn schon erblickte es Beren, bleckte die Zähne und knurrte wütend. ›Warum so unfreundlich?‹ fragte Tinúviel. ›Was soll dieser Gnom 10 , der nicht eingetreten ist und nun eilig wieder hinaus will?‹, sagte Messerrachen und sprang auf Beren los, der mit seiner Faust mitten zwischen die Augen des Wolfes hieb und mit der anderen nach dessen Kehle griff.
Da packte Karkaras Berens Hand mit seinen schrecklichen Kiefern, und es war die Hand, mit der Beren den leuchtenden Silmaril umklammerte, und Karkaras biss die Hand mitsamt dem Silmaril ab, und sie verschwanden in seinem roten Schlund. Groß waren die Qualen Berens und die Furcht und Pein Tinúviels, doch als sie eben erwarteten, erneut die Zähne des Wolfs zu spüren, geschah etwas, das sonderbar und schrecklich war. Wisset denn, dass der Silmaril mit einem weißen und geheimen Feuer loderte, das
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