Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2
und der Schrecken Melkos hausen, dessen Sklaven wir sind. Tatsächlich verheimlichen wir ihm, dass wir dich geleiten, und wüsste er um all unser Treiben, fielen wir der Folter der Balrogs anheim.‹
Solcherart von Furcht gepackt, verließen ihn die Noldoli bald darauf, und er zog allein durch das Hügelland, und ihr Fortgehen erwies sich später als unheilvoll, denn ›Melko hat viele Augen‹, heißt es, und solange Tuor mit den Gnomen wanderte, führten sie ihn über verschattete Pfade und auf manch einem geheimen Gang durch die Berge. Nun aber verirrte er sich, und oft erklomm er Anhöhen und Hügel und spähte über das umliegende Land. Doch er erblickte kein Zeichen einer Siedlung, und wahrlich, die Stadt der Gondothlim war nicht leicht zu finden, denn noch nicht einmal Melko und seine Späher hatten sie bis jetzt entdeckt. Gleichwohl sagt man, dass zu dieser Zeit jene Späher dennoch Wind davon bekamen, dass eines Menschen Fuß diese Lande betreten hatte, und dass Melko deshalb seinen Scharfsinn und seine Vorsicht verdoppelte.
Als nun die Gnomen aus Angst Tuor im Stich ließen, folgte ihm einer trotz seiner Furcht aus der Ferne, der Voronwe oder Bronweg hieß, nachdem er vergeblich versucht hatte, durch Schelten die anderen zu ermutigen. Nun war Tuor von großer Müdigkeit befallen, und er saß am rauschenden Fluss, und die Sehnsucht nach dem Meer machte ihm das Herz schwer, und noch einmal kam ihm in den Sinn, diesem Fluss zu folgen und zu den Wassern und brausenden Wogen zurückzukehren. Doch Voronwe, dieser getreue, gesellte sich wieder zu ihm und sprach ihm ins Ohr: ›O Tuor, glaube nicht, dass du nicht eines Tages wiedersehen wirst, wonach dich verlangt; erhebe dich nun, und glaube mir, ich will dich nicht verlassen. Ich gehöre nicht zu den wegekundigen Noldoli, weil ich ein Künstler und Handwerker bin, der mit seinen Händen Gebilde schafft aus Holz und Metall, und spät erst habe ich mich der Schar deiner Begleiter angeschlossen. Doch einst, in der Mühsal der Knechtschaft, hörte ich heimliches Geflüster und Worte über eine Stadt, wo Noldoli in Freiheit leben können, wenn sie den verborgenen Weg dorthin zu finden vermögen; und wir beide können ohne Zweifel 11 den Weg zur Stadt aus Stein finden, wo diese Freiheit der Gondothlim zu Hause ist.‹
Wisset denn, dass die Gondothlim jene Sippe der Noldoli waren, die als Einzige Melkos Klauen entkam, als er in der Schlacht der Ungezählten Tränen ihr Volk besiegte und versklavte 12 , es mit einem Zauberbann belegte und zwang, in den Eisenhöllen zu leben, die niemand ohne seinen Willen und Befehl verlassen durfte.
Lange Zeit suchten Tuor und Bronweg 13 nach der Stadt dieses Volkes, bis sie nach vielen Tagen zu einem Tal in den Bergen kamen. Hier strömte der Fluss mit viel Wucht und Getöse durch ein sehr steiniges Bett, das von einem dichten Verhau von Erlen verhüllt war; doch die Wände des Tales waren steil,denn sie grenzten an Berge, die Voronwe nicht kannte. Dort fand der Gnom in der grünen Mauer eine Öffnung mit abfallenden Wänden wie eine große Tür, und diese war von dichtem Buschwerk und rankendem Unterholz verdeckt; doch Voronwes durchdringender Blick ließ sich nicht täuschen. Man sagt jedoch, die Erbauer hätten diese Tür mit solchem Zauber umgeben (mit der Hilfe Ulmos, dessen Macht in diesem Fluss lebte, ebenso wie der Schrecken Melkos über seine Ufer schlich), dass nur einer aus dem Stamm der Noldoli so unverhofft darauf stoßen konnte; niemals hätte Tuor diese Tür gefunden ohne die Standhaftigkeit Voronwes, des Gnoms. 14 Aus Furcht vor Melko hatten nun die Gondothlim ihre Zuflucht so sorgsam verborgen; doch des ungeachtet schlichen nicht wenige der mutigeren Noldoli von den Bergen zum Fluss hinunter, und wenn auch viele Melkos Bosheit zum Opfer fielen, fanden doch viele den Zauberweg, gelangten schließlich zur Stadt aus Stein und vermehrten die Zahl ihrer Bewohner.
Groß war der Jubel Tuors und Voronwes, als sie die Tür gefunden hatten, doch bei ihrem Eintritt fanden sie einen dunklen, unebenen und verwirrenden Pfad; und lange Zeit irrten sie unsicher in den Gängen umher. Diese waren voller Echos, und das Geräusch ungezählter Fußtritte folgte ihnen, so dass Voronwe Furcht bekam und sagte: ›Das sind Melkos Kobolde, die Orks von den Bergen.‹ Da rannten sie und stolperten in der Schwärze über Steine, bis sie begriffen, dass bloß der Trug des Ortes sie narrte. So kamen sie denn nach einer Zeit furchtsamen
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