Das Buch der verschollenen Geschichten - Teil 1 & Teil 2
man denken könnte – die Mündung des Flusses erreichte. Dessen Fluten konnte sein Wagen nicht befahren, ohne dem Wasser oder den Ufern Schaden zuzufügen; darum ging Ulmo, der alle Flüsse und diesen einen am meisten liebte, von dort zu Fuß weiter. Bis zur Mitte seines Leibes reichte seine Rüstung, den Schuppen blauer und silberner Fische gleich, doch sein Haar hatte die Farbe bläulichen Silbers, und er trug weder Helm noch Krone. Aus seinem Panzer fielen die Falten seines Schurzes aus schimmerndem Grün, und niemand weiß, woraus dieses Gewand gewebt ist, doch wer immer in die Tiefen seiner zarten Farben schaute, meinte das unmerkliche Strömen tiefen Wassers wahrzunehmen, durchschossen vom unsteten Licht leuchtender Fische, die in diesen Abgründen leben. Umgürtet war er mit einer Kette riesiger Perlen, und an den Füßen trug er riesige Schuhe von Stein.
Hierher trug er auch das große Instrument, mit dem er musizierte; und dies war von seltsamer Art, denn es war aus vielen langen, gekrümmten Muscheln gemacht, in welche Löcher gebohrt waren. Wenn er hineinblies und mit seinen langen Fingern spielte, erklangen unergründliche Melodien von einem Zauber, wie ihn kein anderer Musikant je mit Harfe oder Laute, mit Lyra oder Flöte oder Violine hervorgebracht hat. Als Ulmo nun zum Fluss kam, ließ er sich im Zwielicht zwischen den Riedgräsern nieder und spielte auf seinem Gebilde aus Muscheln; und es war in der Nähe des Flecks, wo Tuor weilte. Und Tuor lauschte, und es verschlug ihm die Sprache. Er stand dort im kniehohen Gras und hörte weder das Summen der Insekten noch das Gelispel der Flussufer, und der Duft der Blumen stieg ihm nicht in die Nase; er vernahm vielmehr das Schlagen der Wellen und das klagende Rufen der Seevögel, und in seiner Seele malte sich das Bild felsiger Plätze und Bänke, überschwemmt von Fischgeruch, und er hörte, wieder tauchende Kormoran ins Wasser klatschte, und das Aufbrüllen der See, die sich in die schwarzen Klippen bohrte.
Da erhob sich Ulmo und sprach zu ihm, und die Furcht raubte Tuor beinahe das Leben, denn Ulmos mächtige Stimme ist abgrundtief: so tief wie seine Augen, die unter allen Dingen die unergründlichsten sind. Und Ulmo sagte: ›O Tuor, einsames Herz, ich will nicht, dass du für immer an diesem schönen Ort der Vögel und Blumen verweilst; ich hätte dich auch nicht durch dieses liebliche Land geführt, 10 wenn es nicht hätte sein müssen. Aber nun begib dich auf deinen vorgezeichneten Weg und säume nicht, denn fern von hier wartet dein Geschick. Nun musst du die Lande durcheilen zur Stadt jenes Volkes, das genannt wird Gondothlim oder Bewohner der Steine, und die Noldoli sollen dich heimlich dorthin begleiten, denn die Späher Melkos sind zu fürchten. Dort werde ich dir Worte in den Mund legen, und dort sollst du eine Weile bleiben. Doch vielleicht wird dein Herz sich aufs Neue den gewaltigen Wassern zuwenden; doch gewisslich wirst du ein Kind zeugen, das mehr als jeder andere Mensch von den äußersten Tiefen wissen wird, seien es die des Meeres oder des Himmelsgewölbes.‹ Dann teilte Ulmo Tuor auch einiges von seinen Plänen und Wünschen mit, doch damals begriff Tuor wenig davon und fürchtete sich sehr.
Dann hüllte sich Ulmo in einen Nebel, der gleichsam auf festem Land aus Meeresluft entstand, und Tuor, mit der Musik in den Ohren, wollte gern zu den Gestaden des Großen Meeres zurückkehren; doch er erinnerte sich seines Auftrages, wandte sich um und ging landeinwärts am Fluss entlang den ganzen Tag. Doch derjenige, der den Muschelhörnern Ulmos gelauscht hat, vernimmt ihr Rufen bis zum Tode, und so erging es Tuor.
Als der Tag anbrach, war er müde und schlief, bis es fastwieder dunkel war, und die Noldoli kamen zu ihm, um ihn zu führen. So wanderte er viele Tage in Dämmerung und Dunkelheit und schlief bei Tag, und daher rührt es, dass er sich später nicht sehr gut an jene Pfade zu erinnern vermochte, die er in jenen Zeiten beschritten hatte.
Nun eilten Tuor und seine Führer unermüdlich weiter, und das Land begann sich hügelig zu wellen, und der Fluss wand sich um die Füße der Berge, und es gab viele Täler von allergrößter Lieblichkeit; doch hier wurden die Noldoli unruhig. ›Dies‹, sagten sie, ›sind die Grenzen der Gebiete, die Melko mit seinen Kobolden überschwemmt, dem Volk des Hasses. Fern im Norden – doch ach, nicht weit genug entfernt, und wären es zehntausend Wegstunden – liegen die Eisenberge, wo die Macht
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