Das Buch der Zeit Band 2: Die Sieben Münzen
anzuprobieren?«
Der Junge zog verlegen den Kopf ein.
Sie winkte Sam und Lili zu sich. »Jetzt kommt schon her, ihr zwei, wolln doch mal sehen, was ich für euch tun kann.«
Die Menschenmenge begann sich zu zerstreuen, und wie ein siegreicher General geleitete Granny Lucy Sam und Lili zu ihrem Haus, wo sie den Neugierigen die Tür vor der Nase zuschlug.
»Ihr müsst entschuldigen«, sagte sie dann, »das Elend hier macht sie böse! Überall Arbeitslosigkeit und Verzweiflung, besonders im schwarzen Viertel. Die Kinder haben Hunger, die Eltern wissen nicht mehr, was sie tun sollen ... es ist ein Jammer! Aber das wisst ihr ja selbst, nicht wahr? So blass und schmächtig wie die Kleine aussieht. . .«
Lili hatte tatsächlich einen leicht wachsartigen Teint, dazu tiefe dunkle Augenringe.
»Ihr habt sicher Hunger. Setzt euch nur, Granny Lucy hat irgendwo noch ein paar Kekse. Und dann mache ich euch einen schönen süßen Tee, der wird euch gut tun. Matthew! Matthew, bist du da, mein Großer? Möchtest du Tee?«
Sie nahmen auf den abgeschabten Sesseln Platz, noch leicht benommen von der unerwarteten Wendung der Ereignisse und tief beschämt darüber, dass sie eine so anständige Frau hatten bestehlen wollen. Der Raum, in dem sie sich befanden, wirkte sehr bescheiden. Er war über und über mit Nippes vollgestopft. Es gab ein einziges Fenster und eine Petroleumlampe, die nur halbherzig brannte. Die rückwärtige Wand bestand aus Wellblech, das zum Teil hinter Reihen alter Fotos verschwand. Es gab auch eine alte Tret-Nähmaschine, einen vor Kleidungsstücken überquellenden Korb, kleine Deckchen auf den Möbeln, eine Sammlung farbiger Glasfläschchen, eine halb aufgeschlagene Zeitung und einen Stuhl. Samuel angelte nach der Zeitung und schlug gespannt die Titelseite auf: »Präsidentschaftswahlen: Wer wird Kandidat der Demokraten?« Und etwas kleiner gedruckt darunter las er: »Heute versammeln sich die Delegierten im Chicagoer Stadion, um ihre Favoriten zu benennen«. Darüber der Name der Zeitung: Chicago Defender, Donnerstag, 30. Juni 1932. »Wir sind in den Vereinigten Staaten, Lili, in Chicago«, murmelte er. »Im Jahr 1932! Siehst du, bald sind Präsidentschaftswahlen!«
Er reichte ihr die Zeitung und Lili machte große Augen.
»Chicago! Aber dann . . .«
»Ihr interessiert euch für Politik?«
Ein schlanker, hoch auf geschossener junger Mann trat ins Zimmer. Seine weiße Uniform mit den Goldknöpfen wirkte etwas deplatziert in dem bescheidenen Zimmer.
»Ihr seid also die gefährlichen Kriminellen, auf die es alle abgesehen haben?«
»Kriminelle ... es handelt sich um ein Missverständnis«, verteidigte sich Sam. »Wir . . . wir haben auf der Reise unsere Koffer verloren und . . .«
Er wurde von Granny Lucy unterbrochen, die ein Tablett mit drei dampfenden Tassen und einer Keksdose hereintrug.
»Ah, ihr habt meinen Matthew schon kennengelernt? Sieht er nicht gut aus? Der ganze Stolz meiner alten Tage! Musst du schon zur Arbeit, mein Großer? Möchtest du nicht etwas Tee?«
Matthew nahm Lili die Zeitung aus der Hand.
»Ich muss in die Einundneunzigste.«
»Nicht wieder geheime Wetten, hoffe ich? Du weißt, das ist illegal!«
»Es ist völlig ungefährlich, Granny, außerdem bessert es den Lohn auf!«
»Kannst du mir sagen, welche Wette sich lohnt, um dafür ins Gefängnis zu wandern?«
»Die Wahlen natürlich! Die Kandidaten, mit denen die Demokraten bei den Präsidentschaftswahlen ins Rennen gehen! Alle Zeitungen sind voll davon!«
»Und du meinst, du kannst damit Geld verdienen?«
»Bis zu tausend Dollar bei einem Einsatz von fünfzig Dollar! Natürlich nur, wenn man richtig liegt.«
»Roosevelt«, warf Lili lässig ein.
»Wie bitte?«
»Die Demokraten werden Roosevelt ernennen, mit John Garner als Vizepräsident.«
Samuel zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Auf Roosevelt wäre er vielleicht auch noch gekommen. Aber seine Cousine war sogar bei den Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten voll auf dem Laufenden . . .
»Roosevelt und Garner? Ich dachte, die beiden verstehen sich nicht besonders?«
»Hören Sie nicht auf sie«, sagte Sam mit einem gezwungenen Grinsen. »Meine . . . meine Schwester ist manchmal etwas neben der Spur. Es gibt Tage, da redet sie nur Unsinn.«
»Roosevelt und Garner«, wiederholte Matthew nachdenklich. »Ja, warum eigentlich nicht!«
Er schnappte sich seine weiße Schirmmütze vom Haken und warf Granny Lucy eine Kusshand zu.
»Bis morgen, Granny! Ich werde
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