Das Buch der Zeit Band 2: Die Sieben Münzen
herzlich. Es ging ihr nicht besonders gut, den ganzen Nachmittag schon hatte man den Eindruck, sie würde jeden Augenblick zusammenklappen. Nach ein paar Melassekeksen sah sie zwar etwas rosiger im Gesicht aus, verfiel aber schon bald wieder in niedergeschlagenes Schweigen. Als sie aufbrechen wollten, hatte Granny Lucy ihnen schließlich noch einmal nahegelegt, mindestens noch die Nacht bei ihr zu verbringen. Doch Lili hatte sich schlagartig aufgerichtet und behauptet, ihr ginge es schon viel besser. Samuel wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Er machte sich Sorgen um seine Cousine und beobachtete sie immer wieder verstohlen aus den Augenwinkeln: Sie schien nicht wirklich in Form zu sein . . . Andererseits lag auch ihm daran, so schnell wie möglich zum Geschäft der Faulkners zu gelangen. Immerhin waren sie mit ihnen verwandt.. . Und wen würden sie in ihrer Lage besser um Hilfe bitten können als ihre Familie? Und im schlimmsten Fall, wenn ihre Urgroßeltern nichts von ihnen wissen wollten, konnten sie immer noch zu Granny Lucy zurückkommen.
Ausgerüstet mit der Adresse und einem einfachen Stadtplan machten sie sich am frühen Abend auf den Weg. Bevor sie sich, den großen Einfallstraßen folgend, Richtung Süden wandten, machten sie einen kurzen Abstecher zu der Baustelle, auf der die Arbeiter noch immer mit dem Abriss des Hauses beschäftigt waren. Nachdem sie die Brachlandflächen und die Armenviertel hinter sich gelassen hatten, begann Chicago wie eine richtige Stadt auszusehen, mit Firmenschildern, Leuchtreklamen, Strömen von Passanten in den Straßen und riesigen Wohnblocks. Die altmodischen Autos wirkten beinahe komisch mit ihren viereckigen Formen, den am Heck festgeschnallten Ersatzreifen und dem trompetenartigen Gehupe an den Kreuzungen.
»Das sind noch Autos!«, rief Sam aus. »Die sehen doch viel besser aus als der fette Allradantrieb von dem Angeber Onkel Rudolf, oder?«
»Sprich nicht von Rudolf«, protestierte Lili seufzend. »Ich wage mir gar nicht vorzustellen, in welchem Zustand sich meine Mutter befindet! Bestimmt hat sie die ganze Schachtel Beruhigungstabletten auf einmal geschluckt. Ich wünschte mir allerdings«, fügte sie seufzend hinzu, »sie wäre jetzt bei uns . . .«
Ungefähr zu diesem Zeitpunkt merkten sie, dass sie sich verlaufen hatten. Inmitten des ungewohnten Lärms und der hohen Häuserblocks, die alle gleich aussahen, mussten sie die Orientierung verloren und die falsche Abzweigung genommen haben. Sie liefen eine Weile im Kreis, bis endlich eine junge Frau, die vor einer öffentlichen Suppenküche Schlange stand, bereit war, ihnen zu helfen. Sie erklärte ihnen den Weg zum Cicero Boulevard, während ihre Kinder sie am Ärmel zupften und nach Brot verlangten. Granny Lucy hatte nicht übertrieben, was die wirtschaftliche Lage Amerikas anging . . .
Einmal auf dem richtigen Weg, ging es bis zum Irving Park eigentlich immer nur geradeaus. Der Abend senkte sich über Chicago, und die Stadt schmückte sich mit Tausenden Lichtern, die nach und nach rundherum aufflammten und wie Sterne an den Wolkenkratzern strahlten. Samuel riss die Augen auf, in der Hoffnung, irgendeine Kirche, ein Gebäude wiederzuerkennen – doch bei dem Familienausflug, den Großvater damals zum ehemaligen Geschäft der Familie organisiert hatte, war er gerade fünf oder sechs Jahre alt gewesen. Er konnte sich an so gut wie nichts erinnern . . .
»Da!«, flüsterte Lili und zeigte auf einen dreieckigen Häuserblock an einer Kreuzung, an der drei Straßen aufeinandertrafen. »Das sieht aus wie auf den Fotos im Familienalbum.«
Tatsächlich prangte über den Schaufenstern des Geschäfts an der Straßenecke in geschwungenen Buchstaben:
Feinkostgeschäft James A. Faulkner
»James Adam Faulkner.« Sams Stimme zitterte. »Grandpas Vater!«
»Wie sollen wir vorgehen, Sam? Wir können doch nicht einfach hereinplatzen und sagen: >Hallo, wie sind eure Urenkel, habt ihr vielleicht irgendwas, das uns zurück in unsere Zeit bringt?<«
Samuel überlegte. Dieser Teil von Irving Park war eher ruhig, ganz im Gegensatz zu dem, was später daraus werden sollte – »die meistbefahrene Kreuzung Chicagos«, wie Großvater immer behauptete. Jetzt wurde sie nur schwach von zwei Straßenlaternen beleuchtet und gelegentlich von den Scheinwerfern vorbeifahrender Autos. Der Tabakladen gegenüber hatte geschlossen, und das Eisengitter des Feinkostladens war auch schon halb heruntergelassen. Doch offenbar war noch jemand
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