Das Buch der Zeit Band 2: Die Sieben Münzen
versuchen, nicht allzu spät zurückzukommen.«
Die alte Dame schickte ihm einen liebevollen Blick hinterher.
»Was für ein Junge! Wenn ihr wüsstet, in welchem Zustand ich ihn damals aufgelesen habe! Und schaut ihn euch jetzt an!« »Sie ... Sie haben ihn aufgelesen?«, nahm Sam den Faden auf, um von dem Thema Roosevelt und den hellseherischen Fähigkeiten seiner Cousine abzulenken.
»Natürlich! Ihn wie so viele andere! Mindestens ein Dutzend Kinder ist bei mir groß geworden . . . Ich bin seit zwanzig Jahren Witwe, was soll ich sagen, da habe ich eben versucht, ein bisschen Liebe und Unterstützung weiterzugeben. Ganz zu schweigen von den Bergen an Wäsche, die ich gewaschen habe! Ich weiß gar nicht, wie viele Ladungen durch meine Maschine gegangen sind! Ihr hättet übrigens besser nach Kleidung gefragt, als euch einfach selbst zu bedienen. Bei Granny Lucy findet sich immer etwas für Kinder wie euch. Ihr habt keine Familie mehr, nehme ich an?«
Lili antwortete schnell:
»Nicht ganz, wir haben Verwandte in Chicago. Feinkost Faulkner, sagt Ihnen das etwas?«
Samuel hätte sich beinahe an seinem Keks verschluckt. Feinkost Faulkner! Chicago! Na klar! Er rechnete schnell nach: Bevor Grandpa zu Allan nach Kanada gezogen war, hatte er ein Geschäft in Chicago gehabt. Er ging jetzt auf die achtzig zu, was bedeutete, dass er 1932 für einen Ladenbesitzer noch zu jung gewesen war. Allerdings, wenn Sam sich recht erinnerte, hatte Grandpas Vater das Geschäft im Jahr 1919 gekauft, kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Anders gesagt, es musste um 1932 auf jeden Fall schon Faulkners in Chicago gegeben haben!
»Feinkost Faulkner, sagst du, meine Kleine? Es gibt mindestens zwei Millionen Lebensmittelläden in der Stadt, wie soll ich die alle kennen!« »Wissen Sie, wie wir vielleicht die Adresse herausfinden könnten?«
»Bist du dir sicher, dass sie euch helfen werden? Ansonsten könntet ihr ruhig ein paar Tage hierbleiben. Platz genug gibt es, und schließlich bin ich daran gewöhnt. Du siehst ziemlich müde aus! Matthew ist nicht so oft zu Hause und . . .«
»Ich würde sie lieber so schnell wie möglich aufsuchen.«
Die alte Dame zögerte.
»Versprich mir, dass du deinen Tee trinkst und wenigstens deinen Keks aufisst, ja? Und dass du etwas anderes anziehst als dieses Nachthemd, das du da anhast!«
»Mit Vergnügen, Granny Lucy.«
»Recht so! Ein Neffe von mir, der hier in der Nähe wohnt, hat sich vor Kurzem ein Telefon einbauen lassen. Sicher hat er ein Telefonbuch. Und jeder Geschäftsmann, der was auf sich hält, müsste da drin stehen, oder nicht?«
Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Chicago schien Lili wieder ein wenig Farbe ins Gesicht zu bekommen.
XIII.
Mafia, Knallfrösche und weiße Bohnen
Das Feinkostgeschäft Faulkner zu finden, war leichter gesagt als getan. Entgegen Granny Lucys Vermutung war ihr fortschrittlicher Neffe zwar stolzer Besitzer eines Telefons, nicht aber des dazugehörigen Telefonbuchs. Er erbot sich jedoch, seine Tochter zur Post zu schicken, und nach drei Stunden – drei Stunden, um zur Post zu gehen! – kam sie mit der heiß ersehnten Adresse zurück: Das Geschäft lag am Irving Park, direkt an der Ecke Cicero Boulevard. In der Zwischenzeit hatte die alte Dame Zeit genug, ihnen ausführlich die Geschichte des Viertels darzulegen und ihnen von den Tausenden schwarzen Familien zu erzählen, die auf der Flucht vor dem Rassismus in den Südstaaten der USA nach Chicago gekommen waren, wo sie in diesen Elendsvierteln zusammengepfercht wurden, sowie vom Ausbruch der schwersten Wirtschaftskrise, die das Land je erlebt hatte. Während sie sprach, kramte sie in einem ihrer großen Körbe nach passenden Kleidungsstücken. Für Lili brachte sie ein blaues, mit Spitze verziertes Kleid zum Vorschein, ein bisschen kurz, aber so gut wie neu; für Sam eine ausgebeulte Golfhose, dazu ein gelbes Hemd und eine orangefarbene Weste – eine etwas gewagte farbliche Zusammenstellung! Wenn er sich selbst in diesem Aufzug in den Straßen von Saint Mary begegnet wäre, hätte es durchaus sein können, dass er sich mit Steinen beworfen hätte!
Granny Lucy stattete sie noch mit Sandalen aus und legte als besonderes Geschenk noch ein kleines Plüschzebra dazu, das früher einem ihrer Zöglinge gehört hatte.
»So könnt ihr euch von Zeit zu Zeit an mich erinnern«, sagte sie, als sie es Lili reichte. »Es heißt Zeb und hat schon so manche Tränen getrocknet!«
Lili bedankte sich und umarmte sie
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