Das Buch des Kurfürsten: Historischer Roman (German Edition)
Streitsucht quoll aus jeder Geste des oberen Kanzleiknechts. Er brachte sein Gesicht nah an Philipps. „Ich sag ja, ich hau dir in die Fresse! Raus jetzt! Fegen!“
Das Herz schlug ihm vor Wut bis zum Hals, und er ballte die Hand zur Faust, als er daran dachte, wie er hinausgetorkelt war. Er hatte die Zähne zusammengebissen, durch den Schmerz geatmet und gefegt. Scheißnickel. Eine Stunde später hatte er den ihm zugeordneten Amtleuten ein kleines Mahl von der Garküche am neuen Markt gebracht. Jetzt hatte er selber Mittag, stand hier am Rathaus, ohne zu wissen weshalb, und sog die kalte Luft ein. Nachdenken. Die Schmerzen nicht beachten. Gab es etwas, das er tun konnte? Wieder und wieder überlegte er. Sich jemandem anvertrauen, vielleicht doch dem Vizekanzler? Es kam nicht infrage. Er würde es nicht über sich bringen, die unverzeihliche Tat zu offenbaren, die er begangen hatte. Um seine Familie zu retten, musste er schweigen – und bis morgen ausharren. Das brachte ihn schier um den Verstand. Dazu kamen die Schmerzen. Brust und Kehle taten weh, desgleichen sein Magen. Sein Gesicht war angeschwollen. Er sollte sich ausruhen. Aber daran war nicht zu denken, er würde ohnehin keine Ruhe finden.
Dann, ohne dass er wusste, woher der Anstoß dazu kam, setzten sich seine Füße in Bewegung, er wandte sich nach rechts, ließ die Verkaufstische des Marktplatzes links liegen und hielt auf die Untere Straße zu, die nördlich an Heiliggeist vorbei Richtung Fischmarkt führte. Spatzen stritten sich bei den Bäckerbuden an der Kirche im Schneematsch um heruntergefallene Krümel. Vorsichtig ging er auf dem unebenen Pflaster weiter. Karren, Vieh und Menschen hatten einen schmutzigen Pfad in das Weiß gefurcht. Als er den Fischmarkt am westlichen Ende der Kirche überquerte, vermied er den Blick nach links, wo die Haspelgasse nach wenigen Hundert Schritten in die Hauptstraße mündete und geradewegs auf das Beliersche Haus wies. Als ob er nicht ohnehin unablässig an Hedwig denken würde. Und daran, dass der Finsterling ihren Namen kannte und ihren Ring besaß. Wut raste durch seine Eingeweide wie ein Feuerball, vermischte sich mit den Körperqualen, und Philipp musste achtgeben, dass er nicht strauchelte und in den Matsch fiel. Ablenkung!, sagte er sich, während er auf den Brunnen am Heumarkt zuhielt. Der Anblick von Pferden würde ihn ablenken. Philipp passierte den Brunnen und folgte dem ansteigenden Schlenker der Gasse nach links, wo sie vor dem Mitteltor mit der Hauptstraße zusammenlief. An dem quadratischen Torturm drängten sich noch mehr Leute, Studenten vornehmlich, denn links vom Tor in der Grabengasse lag die Universität, das erst vor vier Jahren vollendete Collegium Casimirianum, und gleich daneben das Sapienzkolleg. Hier hatte man Sand ausgestreut, weil sich die Hauptstraße nach Westen hin leicht absenkte. Pferdeäpfel und Schweinekot mischten sich mit dem Matsch zu einer braunen Sudelei. Der Torwächter indes sorgte für ein fließendes Durchkommen in beide Richtungen. Philipp überquerte die Brücke und erreichte die westliche Vorstadt auf der anderen Seite des Grabens. Der Stadtgraben entlang der alten westlichen Stadtmauer war seit Langem zugeschüttet, der Teil des Grabens rechts vom Mitteltor jedoch, rundum von Mauern begrenzt, diente als Turnier- und Schießplatz. Man konnte ihn von der Straße aus nicht einsehen, ein mehrstöckiges Gebäude verhinderte die Sicht hinunter. Wehmütig dachte er daran, dass er zusammen mit Hedwig etliche Male auf dessen Aussichtsplattform gesessen und Wettspielen zugesehen hatte, die der junge Kurfürst auf dem Platz zu veranstalten liebte. Er passierte das Gebäude und die sich daran anschließende Backsteinmauer und bog schließlich rechts in die Untere Sandgasse ab. Kalter Wind fauchte ihm vom Neckar her ins Gesicht. An den Seiten der Eingänge der spitzgiebeligen Fachwerkhäuser türmten sich kleine Schneehaufen. Wieder wich er Leuten aus, die die Gasse heraufkamen und wie er in der Mitte gehen mussten. Dann stand er am Eingang zum Marstall. Der vorige Kurfürst Johann Casimir hatte das alte Zeughaus um den Marstall ergänzen lassen. Er war erst vor zwei Jahren fertiggestellt worden. Der Wächter ließ ihn passieren. Als er in den Innenhof trat, stieß er mit einem überraschten Pfiff die Luft aus. Welch ein Gewimmel, Gewieher, Gebell! Edle in gestreiften Kniehosen und pelzverbrämten langen Mänteln, Knechte in Wollkitteln, die dampfende Holzeimer schleppten. Helle
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