Das Buch des Kurfürsten: Historischer Roman (German Edition)
nicht!“, hauchte sie und hoffte, dass ihre Stimme Juli besänftigte. Sie tat es nicht. Juli raunzte, quengelte – und begann zu plärren. Die Bewegung war fließend, die Stiefel fielen in den Schnee, rasch drückte sie ihrer Tochter die Hand auf den Mund. Natürlich schrie das Kind nur umso mehr. Was sollte sie tun, was nur? Irgendwo oberhalb bewegte sich die dunkle Gestalt des Fremden, als ob er klettere. Sie stolperte voran, mühte sich weiter durch den Schnee, die Hand auf ihrer Tochter Gesicht, wofür sie sich in alle Ewigkeit grämen würde, doch es dämpfte das Schreien. Und das war nötig, denn mit einem Mal hörte sie fern hinter sich ein Wiehern und die Geräusche von Reitern im Forst.
Die Stiefel! Sie hatte sie fallen lassen! Wo? Sie blieb stehen. Zurück? Sie machte drei Schritte, blieb erneut stehen, folgte dann doch ihrer Furche im Schnee. Hier irgendwo mussten sie sein, angestrengt äugte sie umher, in ihrer Hast taumelte sie gegen einen Baumstamm, schrammte sich die Schulter, ein leiser Schmerzensschrei entfuhr ihr, die Hand rutschte von Julis Gesicht und ihr Kind krähte aus vollem Halse. Sie waren verloren. Sofort versiegelte sie Julis Mund aufs Neue, flüsterte: „Oh Gott, Juli, scht, scht! Du bringst uns in allergrößte Bedrängnis!“ Das Herz rumpelte in ihrer Brust, es rauschte in ihren Ohren. Dort, waren sie das? Tatsächlich, sie hatte sie wiedergefunden. Sie packte die Stiefel, drehte sich um, eilte weiter. Wo war nun … er? Ich weiß nicht einmal seinen Namen, dachte sie. Lieber Gott, lass ihn auf mich warten, bitte, lass ihn nicht fort sein! Weiterstolpern, mühselig jeder Schritt im Schnee, mit all der Last, der vor Nässe schweren Röcke und dem Mantel, den sie nicht anheben konnte, weil sie keine Hand freihatte. Sie trat auf ihren Saum, da es hügelan ging, fast auf Knien rutschte sie weiter.
Plötzlich war er irgendwo vor ihr, sie spürte ihn mehr, als dass sie ihn sah, sie hörte, wie er einen leisen Pfiff ausstieß. „Hierher!“
Sie hob den Kopf. Zehn, zwanzig Schritte vor sich konnte sie seine schwarze Gestalt erkennen, irgendwo oben verschmolz er fast mit den ihn umgebenden Bäumen und der Nacht hinter ihm. Sie hielt auf ihn zu, glitt auf einem kopfgroßen Stein aus, schrie heiser vor Schreck, ließ erneut alles fahren, Stiefel, Hand, rang mit dem Gleichgewicht, fing sich – und Juli weinte. „Kind, Kind, sei still, so sei doch still“, keuchte sie, raffte den Rock, spürte einen Schmerz im Knöchel, dämpfte erneut Julis Geschrei, indem sie ihr die Hand über den Mund legte. Sie hörte Äste knacken, wollte die Stiefel greifen, bückte sich danach, ein Flattern, Knirschen, Knacken, wie ein schwarzer Pfeil kam er herangeschossen, packte die Stiefel und zischte: „Auf diese Art wir kommen nicht weit, Mistress!“
Sie folgte ihm humpelnd die Anhöhe hinauf. Er entschwand ihrem Blick, kam zurück, reichte ihr die Hand, half ihr.
Ein eisiger Windstoß blies ihr um die Wangen, rechter Hand ging es weiter sanft hügelan, sofern sie das richtig erkannte. Vor ihr allerdings ging es abwärts in eine Senke, die wie ein kleiner, baumloser Kreis aussah, wo es schneehell schimmerte. Am rechten Rand die schwarzen Umrisse eines mächtigen Baumriesen.
„Kommt!“, keuchte er neben ihr, und er rutschte, strauchelte und stolperte hinunter.
Weiter, immer weiter. Sie fragte sich, ob die Pferde wohl durch das dichte Unterholz konnten oder ob die Männer sie führten oder ob sie sie angebunden hatten und ihnen zu Fuß folgten. Konnten sie es schaffen zu entkommen?
„Hierher!“ Er hielt auf den Baumriesen zu.
Der Stamm hatte einen enormen Umfang, niemals zuvor hatte sie ein solches Gewächs gesehen. Als sie ihn erreichten, ahnte sie den jäh abfallenden Hang dahinter mehr, als dass sie ihn sah.
„Bin fast gestürzt hinunter“, keuchte er neben ihr. „Kommt herum.“
Sie folgte ihm. Dicke Wurzeln ragten über dem Abgrund wirr durcheinander in die Luft.
„War wohl ein Erdrutsch“, sagte er, hielt sich am Stamm fest und warf ihre Stiefel in einem sachten Schwung unter die Wurzeln. Dann reichte er ihr die Hand. Sie musste Juli loslassen. Die hatte, vor Erschöpfung wohl, ohnehin mit Greinen aufgehört. Sie hielt seine kalte Hand, er führte sie herum, sagte: „Setzt Euren Fuß auf diesen Auswuchs, ja, so ist es recht, dann den querstehenden darunter, seht Ihr ihn? Gebt acht, wenn Ihr springt, rutscht nicht.“
Sie tat, was er sagte. Hangelte sich vom oberen auf den schmaleren
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