Das Buch des Kurfürsten: Historischer Roman (German Edition)
die Gasse ziehenden Leute. So wandte er sich an den Gesellen Lücke am Verkaufstisch, der sofort nach Herrn Belier rief. Matthias sagte ihm, was geschehen war und dass man Philipp gefangen gesetzt hatte. Auch, dass man ihn und sein Weib in der Wohnung der Tochter fände, wohin sie nun aufbrechen würden. Belier nahm die Nachricht mit bestürztem Gesicht auf und murmelte Worte der Zuversicht. Matthias ging wieder hinüber zu Gundel und den Jungen, jeder Schritt schien ihm der schwerste seines Lebens. Schließlich standen sie schweigend und warteten auf Lehrer Baumann.
„Man hat ihn in Gewahrsam genommen, sagt Ihr?“, rief dieser bestürzt, als er schließlich bei ihnen war und erfuhr, was geschehen war. „Aber das ist ja gänzlich unfassbar!“
Matthias nickte. „Ihr solltet aufbrechen. Wir wollen so schnell wie möglich zur Wohnung unserer Tochter.“
Baumann berührte ihn am Arm und senkte die Stimme: „Soll man dem Zentgrafen Bescheid geben?“
Zentgraf Zahn war der Stiefvater Philipps, er lebte in Hockenheim.
„Das wird nötig sein“, antwortete Matthias. „Wollt Ihr dies übernehmen?“
Baumann nickte.
„Weiß nicht, wie lange wir nun bleiben werden“, sagte Matthias. „Seid so gut und gebt in der Herberge Bescheid, dass ich am Abend hinauskommen werde.“ Er rieb sich die Augen, sah zu Gundel. „Oder erst morgen früh – ich weiß es nicht.“
Noch nie in seinem Leben hatte er sich so hilflos gefühlt. Es klaffte ein Loch in seinem Innern, schwarz und dunkel, und er stürzte mitten hinein.
Dreiundzwanzig
Hedwigs Herz schlug so wild, dass sie meinte, Juli müsse von dem Dröhnen aufwachen. Sie hatte eine solche Angst! Sie hörte Ryss hinter sich keuchen. Er kletterte ihr nach. Dem Herrn sei Dank! Hinauf, weiter, zur Höhle!
Auch wenn es töricht war zu glauben, ihre Verfolger könnten den Schlupfwinkel nicht entdecken, barg er dennoch die einzige Hoffnung. Also strengte sie sich an, erklomm den Fels, suchte mit eiskalten Fingern Halt am Stein, hob mit steifen Fingern die Röcke, griff mit fühllosen Fingern nach einem Büschel irgendwas, das zwischen Ritzen wuchs, um sich daran weiterzuziehen.
Dann hatte sie die Höhlung erreicht, sie musste den Kopf einziehen beim Weitergehen. Dumpf-kalter Steingeruch, modrig. Und plötzliche Dunkelheit nach der Schneehelle draußen. Sie streckte die Arme aus, hielt sich links an der Felswand, tastete sich voran. Ihr Fuß stieß gegen etwas am Boden, mit einem Aufschrei fuhr sie zurück, prallte gegen Ryss, der ihr dicht auf den Fersen war.
„Unsere Sachen“, murmelte er.
Ryss stapfte umher. Sie tappte hinter ihm drein, angstvoll, fraglos, gespannt; folgte ihm in den hinteren Teil der Höhle.
„Oh!“, machte Ryss. „Das ich habe nicht gesehen zuvor.“
„Was? Was habt Ihr nicht gesehen?“ Aber da sah sie es selber. Am vermeintlichen Höhlenende zwängte sich Ryss durch einen schmalen Spalt im Fels.
„Holt die Sachen!“, hallte es dumpf von der anderen Seite.
Erst stand sie wie benommen, dann glomm ein Hoffnungsfunke auf. Vielleicht ging es dahinter weiter? Gab es einen Ausgang? Sie eilte zurück. Bückte sich nach Kasten, Stiefeln und Buch. Und dann blieb ihr fast das Herz stehen.
„Der Teufel hole diesen verwischten Mischmasch von Spuren!“, schepperte eine dünne Stimme von draußen. „Wo sind sie? Und warum plärrt der Windelscheißer nicht? In der Hütte schrie er alles zusammen, jetzt gibt er Ruhe!“
Unwillkürlich blickte sie auf Juli hinab. Noch immer hing ihr Kind wie leblos im Tragetuch. In jäher Furcht raffte sie die Sachen zusammen, legte erst Buch, dann Stiefel auf den Kasten, hielt die Stiefel mit dem Kinn fest, bemüht, nichts zu verlieren und Juli nicht zu erdrücken, stolperte nach hinten. Sicher ist er noch nicht heraufgeklettert, beschwichtigte sie sich. Seine Stimme wäre näher gewesen. Sicher steht er am Fuß des Felsens. Bitte, lass ihn nicht heraufkommen! Die Stiefel fielen herunter. Das polternde Geräusch ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Oh Gott, bitte! Sie wollte Ryss rufen, wagte es aber nicht. Warum kam er nicht und half ihr? Sie stolperte voran mit ihrer Last, erreichte den Felsspalt. „Ryss?“, rief sie leise, während sie das Buch hindurchschob. Für den Kasten indes war der Spalt zu eng. Sie weinte vor lauter Verzweiflung. „Wo seid Ihr nur? Ryss?“, wimmerte sie.
„Hier bin ich, hier!“, hörte sie ihn von der anderen Seite.
„Sie sind da, ich hab die Stiefel verloren, der Kasten
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