Das Buch des Kurfürsten: Historischer Roman (German Edition)
passt nicht hindurch, geht es hinaus auf der anderen Seite?“
„Beruhigt Euch, bitte, so beruhigt Euch doch! Schaut nach oben, hier ist breiter der Spalt. Hebt den Kasten hinauf.“
Sie schluchzte, als sie den Kasten hochhob.
„So ist recht. Ich habe ihn.“
Obwohl sie vor Furcht und Tränen kaum Luft bekam, eilte sie noch einmal zurück, um die Stiefel zu holen. Reichte sie ihm durch den Spalt. Hörte, wie er sagte: „Nun das Kind, rasch, zusammen Ihr gelangt nicht hindurch.“
Hedwig wagte nicht zurückzusehen. Dorthin, wo der Eingang lag und es hell schimmerte. Wenn er heraufkletterte … Nicht daran denken! Ihre klammen Finger krallten sich in den Knoten im Tragetuch, warum ging das nicht schneller, Herr, bitte hilf mir, ich muss ihn aufbekommen, bitte, sie mühte sich, weinte, zitterte vor Angst und Anspannung. Welch eine Qual! Die Finger schmerzten vor Kälte, sie bekam den Knoten nicht recht zu fassen, versuchte, Ryss’ Worten zum Trotz, sich zusammen mit Juli durch den Spalt zu zwängen, musste einsehen, dass er recht hatte. Mit dem Kind vor der Brust ging es nicht, heiß brannten ihr die Tränen auf den Wangen. Sie hörte seine Schritte auf der anderen Seite. Wie von selbst sah sie doch zurück, konnte nichts erkennen, der Eingang lag um eine leichte Kehre, wie ihr erst jetzt bewusst wurde. Mit zitternden Händen nestelte sie an dem Knoten – der sich endlich löste. Sie reichte Juli durch den Spalt, ihre kalten Finger berührten Ryss’ kalte Finger, als er ihr das Kind abnahm. Und dann streifte kantiger eisiger Fels ihre Wangen, keuchend zwängte sie sich durch die schmale Öffnung und gelangte in den Nebenraum.
Sie presste die Hand auf den Mund, um nicht laut aufzuschluchzen. Ryss kam heran, Juli im Arm. „Scht“, machte er und legte ihr die Hand auf die Schulter.
Sie spürte seine Sorge, sah auf. Hier war es dunkler als nebenan, sie konnte ihn kaum sehen, sie nickte dennoch, um ihm anzuzeigen, dass sie ihn verstand und sich zusammennahm.
„Kommt“, flüsterte er und zog sie mit sich.
Sie wischte sich über die Augen, war sich plötzlich der Leichtheit bewusst, jetzt, da sie Juli nicht mehr trug. Eine ungeheure Dankbarkeit wallte in ihr auf, dafür, dass er das Kind hielt und dafür, dass er da war.
„Gibt es einen Ausgang?“, fragte sie und hörte ihre kratzige, verweinte Stimme.
„Nein.“
Dieses Nein fuhr ihr mit unglaublicher Macht geradewegs in den Magen. Dort hockte es und wurde zu einem Klumpen Angst. Der fraß die Erleichterung auf, die sie verspürt hatte, als sie eben endlich auf der anderen Seite angelangt war.
„Nein“, wiederholte sie tonlos.
„Kommt, hierhin.“ Er hielt sie am Arm, führte sie tiefer ins Dunkel, hinein in Finsternis und Kälte.
Sie fühlte sich schwach, klein und schutzlos wie ein Vöglein im Nest, und sie wollte stark sein und ihm keinen Anlass zur Sorge geben. Denn ihr war nur allzu bewusst, dass er sie mitgenommen hatte, obwohl er allein schneller und sicherer vorangekommen wäre. Folgsam ließ sie sich also nieder, als er ihr dies mit sanftem Druck seiner Hand zu verstehen gab. Sie spürte etwas Weiches unter sich. Es war sein Umhang. Er legte Juli vor sie hin und setzte sich neben sie.
„Es ist nur ein kurzer Aufschub, nicht wahr?“, sagte sie leise. Sie spürte einen Kloß im Hals. Vielleicht waren die Verfolger zu groß, um sich durch den Spalt zu zwängen, wie sie und der schmale Ryss es getan hatten. Aber das würde sie nicht daran hindern, ihnen beiden den Garaus zu machen. Sie brauchten vor der Öffnung bloß ein Feuer zu legen.
„Hört zu.“ Ryss unterdrückte ein Räuspern. Flüsternd sprach er weiter. „Es kann sein unsere Rettung, das Buch. Wenn sie finden uns, wir sagen, wir haben es
nicht
.“
„Was? Aber wir
haben
es, nun sollen wir es
nicht
…?“ Sie spürte seine Hand auf ihrem Unterarm und schwieg still.
„Man muss nicht haben studiert, um zu begreifen, dass eine bei Nacht und Nebel durchgeführte Änderung in etwas, das aussieht wie ein Amtsbuch, nicht gehört zum rechten Gewerk. Unseren Freunden ist klar, dass ich mir denke, dass hier stinkt etwas. Ich bin hinderlich, ich kann Zeugnis ablegen von ihrem Handstreich, was immer der ist. Nun das Buch ist fort, das wichtig ist ihnen, weil das, was darin steht, vielmehr, was
nicht mehr
darin steht, irgendwie von Nutzen ist ihnen. Ich kann reden. Dem man macht ein Ende mit einem raschen Streich.“ Ryss zog die Handkante über die Kehle, sie spürte die Bewegung
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