Das Buch des Kurfürsten: Historischer Roman (German Edition)
hinüberzureiten.
Da geschah das Missgeschick.
Ryss war geduckt aufgestanden, trat einen Schritt zurück – und strauchelte. Hedwig entfuhr ein kleiner Schrei, als sie Äste knacken und ihn fluchen hörte. Sie fuhr herum, er war in eine Kuhle geknickt, rappelte sich eben wieder auf. Der Hund schlug an und rannte bellend in ihre Richtung.
„Weg hier!“, zischte Ryss.
Namenlose Angst saß ihr im Nacken. Hügelan, nichts wie weg, hinauf, zurück! Sie raffte die Röcke und stolperte voran, das Bellen im Genick wie einen garstigen Kobold. Der Hund hatte ihre Verfolger aufgescheucht und ihnen verraten, dass sich etwas im Gehölz verborgen hielt. Sie hörte ein Pferd wiehern und flehte, es möge keinen Weg geben, den die beiden mit ihren Pferden benutzen konnten. Angsterfüllt keuchte sie hinter Ryss her, stolperte in den Spuren, die sie zuvor gestapft hatten, strauchelte, mühte sich. Bemerkte, dass Ryss sich ein ums andere Mal nach ihr umsah – nach ihr und den Verfolgern. Sie hatte das Gefühl, langsam wie eine Schnecke zu sein, ihre Füße waren eiskalt und tumb, der Rock nass und schwer, steinschwer die Kindslast vor ihrer Brust. Weiter, nicht stehen bleiben, nur nicht anhalten, nur nicht hinfallen. Hundegebell, Knacken von Ästen, Wiehern. Die Gedanken purzelten durcheinander. Da war kein Weg vom Haus herauf gewesen, ganz sicher nicht. Sie würden mit Pferden nicht ins Unterholz vordringen können. Der Hund mochte ihnen folgen, doch bis die Männer hinterherkämen … Oh Gott, hilf, bitte hilf. Sie dachte an Ryss’ Umsicht, die hinderlichen Dinge an einem gesonderten Ort zu lassen – und war einmal mehr froh darum, wie erfahren er war. Sie hörte ihr Keuchen und das Bellen des Hundes. Sie hörte ungehaltenes Fluchen, Gehölz brach krachend. Wieder wieherte der Gaul.
Weiter, weiter, wohin sollten sie? Ihr Herz raste, ihre Füße strauchelten voran. Wie mühsam das Bergauf-Streben war! Ryss vor ihr schlug Haken, stapfte, stolperte, trampelte hügelan. Sie rutschte aus, fiel vornüber auf die Knie, hörte ihren Aufschrei, fühlte die entsetzliche Angst, sie könnte Juli verletzt haben. Sah, dass ihr Kind wie tot im Tragetuch hing. Ryss hatte sich umgedreht, Sorge im Gesicht. Stimmen hinter sich. Sie musste aufstehen, um Gottes willen weiter! Der Hund bellte, doch es klang fern, ebenso die Stimmen, sie waren ein kalter, böser Hall. Sie schaffte es auf die Beine, mühte sich. Sie brauchte Luft, tat einen tiefen, schweren Zug, hielt sich die schmerzende Seite im Weitertaumeln. Ryss folgen. Sie sah, wie er seinen Stock wieder und wieder durch den Schnee sausen ließ wie eine Sense. Dort, die Felsen?
Ryss hatte den ersten erklommen, sah zu ihr hinab, dann über ihren Kopf hinweg. Schlug mit seinem Stab in den Schnee, dass dieser stäubte und wirbelte.
Sie erreichte den Felsen, ergriff seine ausgestreckte Hand. Er keuchte: „Geht es?“
Ohne seine Hand ging es nicht, rutschiger Stein, Juli vor der Brust, Verfolger im Rücken, es kostete sie all ihre Kraft, Ryss hinterherzuklettern.
„Eilt Euch!“, raunte er und griff nach ihrem Arm. „Klettert weiter!“, befahl er, deutete mit dem Kinn nach oben, dorthin, wo die Höhle sein musste. Dann ging er in die Knie, legte den Stab ab, machte sich an seinem Stiefel zu schaffen.
„Bitte lasst mich nicht allein. Kommt mit mir.“ Sie hörte ihre dünne, brüchige Stimme, hörte das Flehen darin, die Angst. Sie sah, wie er einen kleinen Dolch aus dem Stiefel zog. Aus der Richtung des Abhanges dröhnte das Knacken von Ästen, das Brechen von Gehölz.
Sie kamen.
Zweiundzwanzig
Die Jungen sahen betreten zu Boden.
Matthias – er hatte ihnen in kurzen Worten erklärt, was vorgefallen war – erkannte, dass sie sehr wohl den Ernst der Sache verstanden. Er hatte sie an der Ostseite von Heiliggeist vorgefunden, nahe dem Stand, wo sie zuvor die Wecken ergattert hatten. Auf zwei leeren Fässern hatten sie gehockt und dem Treiben auf dem Marktplatz zugesehen, auf dem die Händler bereits wieder begannen, ihre Tische und Buden aufzubauen. Ein Betrunkener taumelte und stürzte über einen Korb voller Gänse, die umgehend lautes Gezeter anstimmten. Ein halbes Dutzend Zecher umlagerte den Weckenstand und begann, weinselig zu grölen.
Sie gingen längsseits der Kirche, und Matthias sagte: „Ihr wartet an der Ecke dort, ich spreche noch einmal mit Herrn Belier.“
Das große Hofportal beim Belierschen Haus war inzwischen geschlossen, wohl wegen der noch immer lauthals durch
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