Das Buch des Vergessens
habe ich in meinem Buch Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird im Kapitel Blitzlichter im Dunkel: erste Erinnerungen ausführlich dargelegt, aber sie können hier kurz rekapituliert und um Erkenntnisse neuster Studien ergänzt werden.
Anmerkung
Manche Wissenschaftler sehen die Erklärung für all dieses Vergessen vor allem in der Geschwindigkeit der neurologischen Reifung. Das Gewicht des Gehirns beträgt bei der Geburt etwa 350 Gramm. Das Gehirn eines Erwachsenen wiegt zwischen 1200 und 1400 Gramm. Das größte Wachstum, fast eine Explosion, findet im ersten Lebensjahr statt, wenn das Gewicht von 350 auf 1000 Gramm steigt. Der Hippocampus, unverzichtbar für die Bildung von Erinnerungen, ist in den ersten Jahren noch nicht ausgewachsen. Außerdem kann der Hippocampus noch gar keine Erinnerungen auf dem Neocortex speichern, da dieser selbst noch voll im Aufbau ist. Kurz: Das Gehirn wird bei Geburt sozusagen im Rohbau geliefert, die meistenVerdrahtungen müssen noch angebracht werden. Niemand kann erwarten, dass sich darin bleibende Gedächtnisspuren bilden. Es ist die Folge fehlgeschlagener Speicherung, dass kleine Kinder so gut wie alles ›vergessen‹.
Zu dieser Reifungstheorie passt, dass sich das autobiografische Gedächtnis erst in einem Alter entwickelt, in dem sich das Wachstum des Gehirns allmählich stabilisiert. Dennoch gibt es zum Teil große Unterschiede, aus welchem Alter die erste Erinnerung stammt. Die Reifung des Hippocampus und des Gehirns im Allgemeinen variiert individuell nicht so stark wie das Lebensalter bei der ersten Erinnerung. Fehlende oder noch im Aufbau befindliche Verdrahtung kann also nicht alles sein.
Eine eher psychologisch orientierte Theorie sucht die Erklärung für das Vergessen im noch fehlenden Ich-Bewusstsein. Bei kleinen Kindern gibt es noch kein ›Ich‹ oder ›Selbst‹, das die Erlebnisse zu einer Geschichte über die persönliche Vergangenheit zusammenfügt.
Anmerkung
Und solange es kein ›Ich‹ gibt, kann sich keine Autobiografie bilden – es gibt nur bruchstückhafte Ereignisse, die nicht zusammengehalten werden. Was wir ›Vergessen‹ nennen, ist das Verlorengehen von Erinnerungen, die von niemandem eingefordert werden. Nur das Kind, das beginnt, sich eines › Ich erlebe das‹ bewusst zu werden, wird bleibende Erinnerungen anlegen.
Das Ich-Bewusstsein entwickelt sich in der Regel allmählich. Bei manchen Kindern kommt dieses Bewusstsein allerdings plötzlich. In einigen Fällen ist der Durchbruch des Ichgefühls bereits selbst die erste Erinnerung. Hans Magnus Enzensberger erzählte Scheepmaker, er habe mit zwei Jahren in seinem Bettchen gestanden und die Elektroautos der Paketpost beobachtet, wobei ihm das summende Geräusch das »Gefühl vermittelte zu wissen, dass ich ich war«.
Anmerkung
Der Entwicklungspsychologe Kohnstamm hat einige Hundert dieser Art ›Ich bin ich‹-Erinnerungen gesammelt und sie elegant analysiert.
Anmerkung
Ein Bericht des damals vierundachtzigjährigen C. G. Jung über das ›Erwachen‹ seines Ich-Bewusstseins hatte sein Interesse geweckt. »In jene Zeit fiel ein anderes wichtiges Erlebnis. Es war auf meinem langen Schulweg von Klein-Hüningen, wo wir wohnten, nach Basel. Da gab es einmal einen Augenblick, in demich plötzlich das überwältigende Gefühl hatte, soeben aus einem dichten Nebel herausgetreten zu sein, mit dem Bewusstsein, jetzt bin ich. In meinem Rücken war’s wie eine Nebelwand, hinter der ich noch nicht war. Aber in jenem Augenblick geschah ich mir. Vorher war ich auch vorhanden, aber alles war nur geschehen. Jetzt wusste ich: Jetzt bin ich, jetzt bin ich vorhanden.«
Anmerkung
Solche Erinnerungen sind oft von blitzlichtartiger Deutlichkeit: Das Kind erinnert sich auch daran, wo es war, wer dabei war, womit es in diesem Moment beschäftigt war. Es ist ein Bewusstsein, das Gefühle beim Kind hervorruft, manchmal, weil es sich mit einem Schlag darüber klar wird, einzigartig zu sein, unverwechselbar, ein anderer als seine Geschwister, das einzige ›Ich‹, manchmal auch, weil es sich plötzlich bewusst wird, allein zu sein, abgeschnitten, gefangen im eigenen Körper, unscheinbar in einer großen Welt. Die Reaktionen variieren von einem intensiven Glücksgefühl bis zu leichter Panik.
Die meisten ›Ich bin ich‹-Erinnerungen in der Sammlung Kohnstamm sind auf ein Alter von sieben, acht oder noch später zu datieren, frühere sind selten. Sie fanden also später als die ersten Erinnerungen
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