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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Verlangen, keine Masturbationsfantasien, keine Spur vom ›Tier mit den zwei Rücken‹, nichts,das den Eindruck machte, jemals ›begraben‹ gewesen zu sein. Zu einer Zusammenarbeit zwischen Penfield und Kubie – oder einer Vereinigung der Neurochirurgie und der Psychoanalyse – ist es nie gekommen.
Led Zeppelin
    1933 hatte Penfield epileptischen Gehirnen die ersten Flashbacks entlockt. Während des folgenden fast halben Jahrhunderts hat man ihm auffallend wenig widersprochen. Das Problem war nicht, dass er als Einziger über die experimentellen Mittel für solche Versuche verfügt hätte: Das Montrealverfahren wurde auf der ganzen Welt genutzt, um Epilepsieherde zu entdecken, und auch auf anderen Operationstischen als denen des MNI berichteten Patienten von Geräuschfetzen und Bildern, die wie Erinnerungen empfunden wurden. Dass man in der heutigen Hirnforschung nicht länger glaubt, Penfield habe ein neuronales Tonbandgerät entdeckt, ist eher die Folge neuer Interpretationen als neuer Tatsachen.
    Manchmal wurden Argumente gegen Penfield angeführt, die zeigen, dass sein eigentliches Werk schlecht gelesen worden war. Der Neurochirurg Ojemann hatte einen Mann mit Schläfenlappenepilepsie nach dem Montrealverfahren operiert und festgestellt, dass die Reizung einer bestimmten Stelle spezifische musikalische Flashbacks verursachte: Songs von Led Zeppelin. Wenn er die Elektrode wegnahm, waren sie verschwunden, wenn er sie wieder einsetzte, war auch die Musik wieder da. Mit einem lakonischen »Now, I am not a great fan of rock music, and this was epileptic brain, so of course I took it out!« schnitt Ojemann an dieser Stelle Gewebe weg.
Anmerkung
Als er dem Mann einige Jahre später wieder begegnete, waren dessen Erinnerungen an Led Zeppelin noch vollkommen intakt. Er präsentierte dies als entscheidende Widerlegung der Tonbandgerät-Theorie.
Anmerkung
Aber Penfield war dieser Art von Ergebnissen selbst auch schon begegnet und hatte sie als Beweis dafür aufgefasst, dass alle Erfahrung zweifach gespeichert wird.
    Überzeugender ist es, etwas genauer nach der Häufigkeit der Erfahrungen von Penfields Patienten zu schauen. Der zusammenfassende Artikel in Brain analysiert die Berichte von 1288 aufeinanderfolgenden Operationen. Die Reaktionen, die mit Gedächtnis zu tun hatten, waren ausschließlich mit dem Schläfenlappen verbunden. Aber nur 40 der 520 Patienten, bei denen präoperativ der Schläfenlappen gereizt wurde, berichteten von Reaktionen. Die anderen gut 92 Prozent hatten nichts empfunden. Wenn sich in ihrem Gehirn überhaupt ein Tonbandgerät befand, gelang es jedenfalls nicht, die Playtaste zu drücken. Eine Erklärung für den Unterschied fehlt, und Penfield spricht auch nirgends davon, dass sie notwendig sei. Bei 24 der 40 Patienten, die von Phänomenen berichteten, ging es um Halluzinationen, meist der Art, wie sie diese auch während eines Anfalls erfahren hatten. Manchmal war die Wahrnehmung eine seltsame Mischung aus Halluzination und Flashback, wie bei einem zwölfjährigen Jungen, der hörte, wie seine Mutter mit seiner Tante telefonierte, aber dabei auch die Stimme der Tante hörte. In einer Analyse von Penfields Berichten machte der Neurobiologe Squire noch darauf aufmerksam, dass Reizung derselben Stelle zwei ganz unterschiedliche Erlebnisse hervorrufen konnte und die Reizung zweier weit auseinanderliegender Stellen manchmal nahezu identische Erlebnisse aufrief.
Anmerkung
    Auch bei der Art der subjektiven Erfahrungen sind Fragezeichen angebracht. So etwa bei der schon genannten Patientin M.   M. Sie war die Frau, die einen reisenden Zirkus in der Nacht ›sah‹ und ›hörte‹, wie eine Frau in der Nachbarschaft ihren Sohn rief. Penfield hat ihren Bericht in einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen verarbeitet, immer wieder im fast selben Wortlaut. Fast, denn bei all diesen Wiederholungen haben sich auch Diskrepanzen eingeschlichen, die zu denken geben, an was die Frau sich eigentlich ›erinnerte‹. Laut eines Berichts aus dem Jahr 1958 hatte M. M. bei Wiederholung des Reizes dieselbe Frau rufen hören, aber diesmal in einer Holzhandlung. Sie hatte hinzugefügt, sie sei ›selten oder nie‹ in einer Holzhandlung gewesen. »Das war ein Vorfall aus ihrer Jugend«, schrieb Penfield, »an den sie sich ohne Hilfe der Elektrode nie erinnert hätte. Eigentlich konnte sie sich auch nicht daran ›erinnern‹, aber sie wusste augenblicklich, ohne dass wir es suggerierthätten, dass sie dies einmal

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