Das Buch des Vergessens
mein Gesicht sehen«) das Institut.
Anmerkung
Aber ein paar Tage später kommt er zurück und beginnt mit der schmerzlichen Aufgabe, die Akten Stück für Stück durchzugehen. Péter Esterházy schreibt daraufhin in anderthalb Jahren erneut ein Buch: Verbesserte Ausgabe. Das gerade Zitierte ist den ersten Seiten entnommen. Auch Verbesserte Ausgabe ist vieles zugleich. Es enthält Teile aus den Berichten, die Vater Mátyás geschrieben hatte, zu einem wichtigen Teil über seine Verwandtschaft und später auch über seine eigene Familie, Fragmente aus dem Tagebuch, das Péter nach seiner Konfrontation mit den Agentendossiers zu führen begann, Kommentare zu diesen Tagebuchaufzeichnungen, historische Notizen über die Scheinprozesse und Exekutionen in der Zeit, in der sein Vaterdem Regime als Informant zu Diensten stand, und Betrachtungen zu Harmonia Caelestis – jetzt im Licht der neuen Erkenntnisse über Mátyás Esterházy.
Es ist unmöglich, paraphrasierend und zitierend den Gefühlen gerecht zu werden, die Péter Esterházy in Verbesserte Ausgabe beschreibt, der Scham, dem Kummer, der Wut, dem Hass, dem gekränkten Stolz, aber auch dem Mitleid mit seinem Vater, dem Mitleid mit sich selbst, der Desillusionierung, der Fassungslosigkeit, dass sich ein so großer Teil des Lebens seines Vaters vollkommen außerhalb seines Gesichtskreises abgespielt hatte, dem Erstaunen, warum bloß, Fragen, mit denen er sich an niemanden wenden kann, denn sein Vater war zwei Jahre zuvor verstorben. Die Weinkrämpfe in den ersten Monaten, als er die Dossiers durcharbeitet, werden im Text schließlich nur noch abgekürzt: T für Tränen. Die den Akten entnommenen Passagen sind beschämt in Rot gedruckt.
Péter Esterházy hat anfangs noch den Eindruck, sein Vater habe nur Dinge aufgeschrieben, die der Geheimdienst sowieso schon wissen konnte, aber schon bald zeigt sich, dass auch echte denunzierende Informationen enthalten sind, wie: »Meines Wissens nahmen aus Csobánka die Anwohner L. R., T. und Sz. in Budapest an bewaffneten Handlungen im Laufe des Oktobers teil.«
Anmerkung
Oder: »In Csobánka wurde während der Oktoberereignisse der rote Stern vom Heldendenkmal entfernt. Wie ich hörte, war der Täter Sz., der Schwiegersohn des Schotterhändlers B. S.«
Anmerkung
Die Hoffnung, sein Vater habe den Geheimdienst heimlich in die Irre geführt, macht der Gewissheit Platz, dass er wirklich Verrat begangen hat. In den Akten, die bis März 1980 reichen, berichtet Mátyás Esterházy, wer von seinen Kontakten ausländische Korrespondenz unterhält, was er von seinen alten Freunden in der Aristokratie zu hören bekommt, von wem er Trauerkarten erhält, wenn Angehörige sterben, welche Aktivitäten Familienmitglieder entfalten, die außerhalb Ungarns wohnen, in den Berichten tauchen sogar Geschichten auf, die Péter ihm als Achtzehnjähriger zu Hause erzählt hatte. Was das Lesen der Dossiers so unerträglich macht, ist, dass so viele der Namen, die darin vorkommen, für ihn bis dahin einfach Onkel und Tanten waren, Freunde seiner Eltern, Bekannte, die zu Besuch kamen und die,vielleicht, im Nachhinein betrachtet, nur eingeladen worden waren, um sie auszuhorchen. In der Art, wie ›Csanádi‹ Kontakt zu seinen Opfern sucht, sieht er denselben Charme am Werk, den er als Kind so an seinem Vater bewunderte und jetzt abscheulich findet.
Verbesserte Ausgabe ist ein verzweifeltes Buch. Der Gedanke, dass sein Vater als Denunziant tätig war, als führende Intellektuelle, Politiker, Künstler und Mitglieder der früheren Aristokratie infolge des ungarischen Volksaufstands verhaftet oder verurteilt wurden, führt zu einer Scham, die für Péter nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart angreift. Denn in der Zwischenzeit ist Harmonia Caelestis erschienen. György Konrád schreibt ihm in einem Brief zum Geburtstag, er habe so schön über seinen Vater geschrieben, während seiner Signierstunden erzählen ihm Menschen mit Tränen in den Augen, wie sehr sie das liebevolle Porträt von seinem Vater gerührt hat.
Aber mehr als alles andere sind die Agentendossiers ein Anschlag auf seine Erinnerungen. Er klappt das vierte Dossier auf und liest: »Ich berichte, dass Péter Esterházy (geboren in Budapest am 14. April 1950) am Budapester Piaristischen Gymnasium sein Abitur ablegt; bislang erwies er sich als hervorragender Schüler. Er meldet sich zur Immatrikulation an der Budapester Loránd-Eötvös-Universität an, Fachgebiet
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