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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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vielleicht?
    Das Gedächtnis für Gesichter ist Teil des visuellen Gedächtnisses, und schon in den Anfangsjahren der Psychologie hat man festgestellt, dass dieser Gedächtnistyp über eine große Kapazität verfügt. Die klassischen Experimente, die sich auf die Suche nach seinen Grenzen machten, wurden in den Sechziger- und Siebzigerjahren durchgeführt. Die Grenzen erwiesen sich als weichender Horizont. In einem Experiment aus dem Jahr 1967 bekamen Versuchspersonen 612 Abbildungen zu sehen, sechs Sekunden pro Abbildung. Im Anschluss wurden ihnen jeweils zwei Abbildungen vorgelegt, und sie sollten angeben, welche von ihnen sich in der Serie der 612 befunden hatten. Zu 98 Prozent waren die Ergebnisse korrekt. In einem anderen Experiment erweiterte man auf mehr als 2500 Dias, jedes wurde zwischen fünf und zehn Sekunden gezeigt.Anderthalb Tage später konnten Versuchspersonen diese Dias inmitten von ablenkenden Aufnahmen noch zu 90 Prozent korrekt identifizieren. Das ist schon bemerkenswert viel, vor allem, weil auf den Dias wirklich nichts Besonderes zu sehen war: ein Baum, ein Flugzeug, ein Hund. In einem Folgeexperiment bekamen Versuchspersonen zehntausend Dias zu sehen.
Anmerkung
Diese Menge musste man aufteilen in fünf Sitzungen zu je zweitausend Dias pro Tag. Auch diese Dias wurden Tage später zum überwiegenden Teil korrekt identifiziert. Es ist unmöglich, die Kapazität des visuellen Gedächtnisses zu bestimmen, weil man zuvor schon auf eine andere Grenze gestoßen sein wird: die der menschlichen Toleranz gegenüber Langeweile. Platzmangel ist jedenfalls nicht das Problem.
    Aber was ein solches Experiment überprüft, könnte man einwenden, ist eher Wiedererkennen als Erinnerung: Bei einem Dia angeben können, dass man es vorher schon mal gesehen hat, ist noch etwas anderes, als dieses Dia aus dem eigenen Gedächtnis aufrufen zu können. Das stimmt, und es ist ein Einwand, der in die Richtung einer Erklärung für das Verblassen von Gesichtern in unserem Gedächtnis weist. Informationen im visuellen Gedächtnis lassen sich mit einem gewissen Eifer updaten. Wären beim Verlassen des Kinos die alten Erinnerungen an alle Orte, an denen man jemals das Auto oder Fahrrad abgestellt hat, im Gedächtnis noch genauso aktiv wie die neuste, würde eine große Verwirrung entstehen. Man würde noch lange durch die Straßen irren, überallhin, wo das Fahrrad oder das Auto auch einmal gestanden hat. Unser Gedächtnis wirft überholte Informationen offensichtlich weg, überschreibt sie oder macht sie unzugänglich – die Konsequenz ist in jedem Fall, dass nur die neusten Informationen aktiviert werden. Es ist leicht, den evolutionären Vorteil daran zu erkennen. Aber derselbe nützliche Mechanismus entfernt auch die Erinnerungen an die früheren Gesichter unserer Eltern und Kinder, Mann, Frau und Freunde aus unserem Gedächtnis. Die Erinnerung an ihr Gesicht ist immer wieder überholt und erneuert worden, und dabei wurde die vorige Version entfernt. So wird das Betrachten von Fotos zu einer wehmütigen Aktivität: Es erinnert uns an das, was wir vergessen haben.
    Das ist nicht die einzige Doppelsinnigkeit im Verhältnis zwischen Fotos und Erinnerungen. Fotos, wird häufig gesagt, haben eine Dauerhaftigkeit, die eine Erinnerung niemals haben wird. Eine Erinnerung kann uns ein Menschenleben lang begleiten – aber auch keine Sekunde länger. Was wir in den Erinnerungen anderer sind, verschwindet mit ihnen. Fotos bleiben. Aber was genau bleibt von einem Foto?
    In seinem Roman Hirngespinste lässt Bernlef den an Demenz erkrankten Maarten gemeinsam mit seiner Frau Vera durch das Fotoalbum blättern. Ihr Hausarzt hielt es für eine gute Methode, um Maartens Erinnerungen ›in Ordnung zu bringen‹. Die Fotos aus grauer Vorzeit bringen viele Erinnerungen zurück, den Krieg, das Essen damals, die Möbel, die Ausflüge, die Urlaube in Pensionen, die Kinder, als sie noch Kinder waren. Aber Fotos aus späteren Jahren sagen ihm nichts. »Vielleicht liegt es an den Fotos«, grübelt Maarten. »Eine Kamera macht keinen Unterschied zwischen wichtig und unwichtig, zwischen Vor- oder Hintergrund. Und so einem Apparat ähnele ich selbst offenbar zurzeit. Ich registriere, aber nichts und niemand kommt mir näher, rückt in den Vordergrund; niemand rührt mich mit einer Gebärde, einem überraschten Gesichtsausdruck, aus der Vergangenheit an; diese Gebäude, diese Straßen und Plätze existieren in Städten, in denen ich nie gewesen bin und

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