Das Buch des Vergessens
in die ich nie kommen werde. Und je mehr sich die Fotos, wie aus der Datierung hervorgeht, dem Heute nähern, desto undurchdringlicher und rätselhafter werden sie.«
Anmerkung
Bernlef kreiert hier einen Spiegeleffekt. Was in Maartens Gedächtnis an Schärfe und Bedeutung verloren geht, verschwindet ebenso aus den Fotos. Und es verschwindet auch so allmählich und in der Richtung, die schon seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts als das ›Ribotsche Gesetz‹ bekannt ist, nach dem französischen Arzt Théodule Ribot, der feststellte, dass Gedächtnisverlust bei Demenz von erst kürzlich Geschehenem zu Früherem verläuft. Aber damit verlieren die Fotos zugleich ihren prothetischen Wert. Als der Arzt ein paar Tage später vorbeikommt und fragt, wie es ihm mit dem Betrachten der Fotos ergangen ist, sagt Maarten: »Fotos ansehen kann jeder, aber ein Foto betrachten bedeutet, dass man daraus lesen kann.« Und er erklärt: »Sie können das Fotoalbum aufdem Tisch da zum größten Teil nicht lesen, weil Ihnen die nötigen Hintergrundinformationen fehlen. Sie sind nicht dabei gewesen. Mit anderen Worten, Sie können sich nichts dabei vorstellen, weil Sie sich nicht erinnern können, wie es damals wirklich aussah. Es ist nicht Ihre Vergangenheit.«
Anmerkung
Demenz verstärkt Doppeldeutigkeiten, die auch im normalen, gesunden Leben im Verhältnis zwischen Fotos und Gedächtnis existieren. Auch bei einem intakten Gedächtnis gibt es bei persönlichen Fotos manchmal dieselbe Umkehrung der Zeit: Beim Älterwerden können ›alte‹ Fotos mehr Erinnerungen wecken als neuere. Dass Maarten alles Mögliche über Fotos aus grauer Vorzeit erzählen kann, aber nicht in Fotos vordringen kann, die vielleicht erst zehn Jahre alt sind, ist eine groteske Verformung eines Mechanismus, der in jedem älter werdenden Gedächtnis in Gang ist. Ein Foto braucht Erinnerungen, um wirklich eine Vorstellung hervorbringen zu können.
Manchmal fällt einem auf dem Trödelmarkt ein altes Fotoalbum in die Hände. Es könnte gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts angelegt worden sein, vor so langer Zeit, dass man davon ausgehen kann, dass jeder in diesem Album, auch der Jüngste, selbst dieses Mädchen da auf dem Schoß, inzwischen tot ist. Sogar die Menschen, die sich einst an diese Menschen erinnerten, werden mittlerweile tot sein. Wie solche Alben zwischen den Trödel geraten sind, bleibt oft ungewiss. Vielleicht gab es keine Nachkommen mehr, vielleicht legten sie keinen Wert auf Fotos von Familienmitgliedern, denen sie nie begegnet sind. Die Fotos sind nicht ihre Vergangenheit. Man darf sich das Gedächtnis wie den Bildbetrachter beim Stereoskop vorstellen. Erinnerungen geben den Fotos, die man hineinschiebt, Tiefe, sie eröffnen eine dritte Dimension, ziehen den Blick nach innen, als würde man sich kurz in der Abbildung befinden und sich mit etwas beschäftigen, was dort zu sehen ist. Ohne Erinnerungen entfällt jede Vorstellung von Perspektive. Wir betrachten die Fotos in einem vergessenen Album wie Maarten seine jüngsten Fotos: Wir betrachten sie zwar, aber wir sehen nichts.
Die Kunst des Vergessens
Der Philosoph Kant hatte in seinem Junggesellendasein einen Hausknecht, der ihm rund vierzig Jahre lang treu zur Seite stand. Sein Name war Martin Lampe, ein ehemaliger Soldat der preußischen Armee und mit jenem Gefühl für Pünktlichkeit gesegnet, das Kant so schätzte. Leider kam es im Jahr 1802 – Kant war damals schon achtundsiebzig – zu einem schweren Konflikt zwischen den beiden Herren. Drei Biografen, Zeitgenossen, haben es offengelassen, was der Auslöser war, man vermutet, es ging um Trunksucht oder Diebstahl – in der Folge jedenfalls entließ Kant seinen Knecht. Lampes Nachfolger wurde wieder ein ehemaliger Soldat, an dessen laute Stimme sich Kant jedoch in den zwei Jahren, die ihm noch verblieben, nicht mehr gewöhnen konnte.
Kant hatte sein halbes Leben mit Lampe geteilt. Lampe: Das war um fünf Uhr in der Früh das Klopfen an der Schlafzimmertür (»Es ist Zeit!«). Lampe: Das war das Zeichen, dass das Mittagsmahl bereitstand (»Die Suppe ist auf dem Tische!«).
Anmerkung
Lampe: Das war die Hand, die den Regenschirm reichte, die silbernen Schuhspangen putzte, die Perücke puderte, die Gänsefeder spitzte.
Lampe aus dem Haus zu werfen ist Kant gelungen. Ihn aus dem Gedächtnis zu verbannen schaffte er nicht.
Versucht hat er es zwar, sogar mit aller Kraft, was der Fund einer Aufzeichnung in seinem Arbeitszimmer kurz nach
Weitere Kostenlose Bücher