Das Buch des Vergessens
lässt diesen Sand aber, wenn sie gegangen sind, behutsam in ein Tütchen rieseln und bewahrt es heimlich auf. Ist das nicht ein eindringliches Bild dafür, wie das Gedächtnis mit dem umgeht, was wir jemanden als ›Vergeben und Vergessen‹ versprechen? Bei der erstbesten Wiederholung des Vergehens kommt stets ans Licht, dass das mitdem Vergessen nicht so gut gelungen ist, fast im Gegenteil: Was vergessen werden sollte, erweist sich als registriert und ähnelt eher einem Strafregister als einem Vergessensbuch. Im Gehirn eines jeden haust ein Magister schwarzer Künste, der sehr genau über Vergebenes und Vergessenes Buch führt.
Aber wirklich finster wird es in dieser Geschichte nicht. Von Pocus niederträchtigen Plänen wird nichts realisiert, letzten Endes spülen die Wasser des Vergessens über alles Hässliche, das in das Vergessensbüchlein geschrieben worden war. Am Ende gibt es hier und da ein paar leere Stellen in Gedächtnissen, aber viel Böses richtet das nicht an. Der Bürgermeister schreibt sie dem Älterwerden zu. Andere Gäste sind sich keiner leeren Stellen bewusst. Zum Schluss amüsieren sich alle beim Festmahl über die Narreteien des Gedächtnisses.
»Und selten bieten Erinnerungen Trost«
»Der Name Lampe muss nun völlig vergessen werden«, hielt Kant sich vor. Der Klassiker Weinrich hat sich gefragt, ob diese Notiz, auf den ersten Blick ein Ansporn, Lampe zu vergessen, nicht anders gelesen werden müsste.
Anmerkung
In seinen letzten Lebensjahren entwickelte Kant eine rasant zunehmende Vergesslichkeit. Die Symptome suggerieren Alzheimer im Anfangsstadium. Zuletzt erkannte er selbst seine engsten Vertrauten nicht mehr. Aber Kant hatte auch einen Ruf als geistreicher, unterhaltsamer Plauderer zu verlieren. Seine Freunde durch ständige Wiederholungen zu langweilen dürfte so ziemlich das Letzte gewesen sein, was er wollte. Darauf verweist der Fund von Zetteln, auf denen Kant offensichtlich notierte, worüber er mit seinen Freunden gesprochen hatte. Sich zu wiederholen und so zu verraten, dass man vergessen hat, was man am Tag zuvor gesagt hatte, ist die Angst eines jeden Alzheimerpatienten.
Kann es nicht so sein, fragt sich Weinrich, dass die Anmerkung zu Lampe dazu dienen sollte, sich selbst daran zu erinnern, jetzt nicht wieder von der Notwendigkeit zu sprechen, Lampe zu vergessen?
Das macht den Satz nicht weniger anrührend, doch in dieser Variante ist er keine Anweisung mehr, sondern eher eine Beschwörung der verzweifelten Art. Eine Beschwörung zudem, die bald nicht mehr notwendig sein würde: Wenig später war Lampe tatsächlich vergessen, wie auch alles andere.
Der Kant, der von seinem Gedächtnis im Stich gelassen wurde, muss einen beängstigenden Anblick geboten haben: Die Krankheit löschte in kaum zwei Jahren einen der vortrefflichsten Denker der Aufklärung aus. Seine Schwester, die nie eine Silbe der Kritik der reinen Vernunft verstanden hatte, muss seine Sätze nun zu Ende führen. Angesichts der Mühe, auch nur die einfachsten alltäglichen Dinge zu behalten, verlor jegliches Philosophieren über eine ars memoriae oder eine ars oblivionis jede Bedeutung. Kants Leben hatte im Zeichen von Pünktlichkeit und Disziplin gestanden, Eigenschaften, die als erste von Vergesslichkeit untergraben werden. Die Zettelchen und Notizen waren nicht viel mehr als der sichtbare Teil der Anstrengungen, die Kant auf sich genommen haben musste, um sein Leben im Griff zu behalten. Die zunehmende Unruhe, die jeder Demenzkranke spürt, und später die Angst, den Zugriff auf sein Gedächtnis zu verlieren, hat er für sich behalten. Seine Freunde werden es bedauert haben, dass sein sich in Auflösung befindliches Gedächtnis Kant keinen Rückblick auf ein langes und gut genutztes Leben mehr gönnte.
Marten Toonder erreichte ein sehr hohes Alter und behielt bis zum letzten Augenblick einen klaren Verstand. Aber Ersteres wäre aus seiner Sicht nicht notwendig gewesen, und Letzteres war kein ungetrübtes Vergnügen. Nach einer fast fünfzigjährigen Ehe war seine Frau Phiny Dick gestorben. Er hatte in Tera de Marez Oyens eine neue Liebe gefunden, aber sie starb kurz nach der Hochzeit. Er hatte drei seiner vier Kinder überlebt. Freunde seiner Generation waren nach und nach verstorben. Seit 1996 wohnte er im Rosa-Spier-Haus in Laren, vereinsamt und trübselig. Der Tod hätte seinetwegen Jahre früher kommen können, er saß seine Zeit ab, und das Warten fiel ihm schwer. Im Sommer 2005 starb er im Schlaf,
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