Das Buch des Vergessens
seinem Tod bezeugt. Sie lautete: »Der Name Lampe muss nun völlig vergessen werden.«
Anmerkung
Viele Schriftsteller, Dichter und Philosophen haben versucht, unsere Machtlosigkeit gegenüber dem Gedächtnis auszudrücken, aber nie ergreifender als durch diesen Befehl. Sich selbst vorhalten, man solle aufhören, an etwas zu denken, ist eine Sache, sich selbst schriftlich daran zu erinnern, was man vergessen soll, ist noch ein machtloser Schritt weiter.
Kant war gut über die Literatur der Mnemotechnik informiert. In der klassischen ars memoriae, rund 500 vor Christus vom griechischen Dichter Simonides entworfen, machte ein Sprecher zunächst einen Spaziergang durch ein imaginäres Haus und hinterließ in jedem Zimmer eine symbolische Vorstellung dessen, an was er sich erinnern wollte. Während seiner Rede wiederholte er den Spaziergang und fand dann am jeweiligen Ort die Dinge wieder, die er zur Sprache bringen wollte. Kant war kein Anhänger dieser Methode. Er fand die Vorgehensweisen umständlich, denn man musste zumindest über ein exzellentes Gedächtnis verfügen, um sich ihrer zu bedienen. In den ersten Wochen nach Lampes Weggang muss er eher so etwas wie eine Kunst des Vergessens vermisst haben. Und tatsächlich: Die gibt es nicht. Was sollte man sich auch darunter vorstellen? Eine umgekehrte Mnemotechnik? Jede Betonung dessen, was man vergessen möchte, kann dazu führen, dass man gerade daran erinnert wird, was man vergessen wollte, derselbe paradoxe Effekt, den die Aufzeichnung zu Lampe auf Kants Gedächtnis gehabt haben wird.
Schon zu Zeiten des Simonides, als ein gutes Gedächtnis in der Kunst und im öffentlichen Leben ein wesentliches Instrument und hoch angesehen war, bedauerten manche das Fehlen einer Kunst des Vergessens. In verschiedenen Abhandlungen über die Rhetorik ist die Geschichte zu finden, in der Simonides dem Politiker und Feldherrn Themistocles anbot, ihn in seine ars memoriae einzuweihen. Der winkte jedoch ab: Simonides sollte ihm lieber beibringen, wie er vergessen konnte, was er vergessen wollte. Themistocles brauchte eher eine ars oblivionis.
Anmerkung
Simonides konnte ihm nicht helfen. Auch in unserer Zeit gibt es eine Kunst des Vergessens nur als Gedankenexperiment. Aber wenn es eine Technik gäbe, mit der man willkürlich Erinnerungen verschwinden lassen könnte, welche Konsequenzen hätte das wohl? Und daran anschließend: Wäre es vernünftig, sie zu nutzen? 1976 hat Marten Toonder sich in der Bommelgeschichte Das Büchlein vom Vergessen genau diese Frage gestellt.
Anmerkung
Es enthält eine kleine Philosophie des Vergessens.
Toonder schrieb es als Mittsechziger. Das Lebensalter ist beimPhilosophieren über Erinnern und Vergessen nicht ganz ohne Bedeutung.
Das Vergessensbüchlein von Pocus
Die Geschichte beginnt mit den Problemen, die durch Bommels Vergesslichkeit entstehen. Er vergisst Namen, Verabredungen und Versprechen. Die Lohnerhöhung, die er Joost zugesagt hat, ist ihm vollkommen entfallen, und am nächsten Morgen beim Frühstück starrt er verwirrt auf den Knoten in seinem Taschentuch: Was sollte er bloß nicht wieder vergessen? Andere Mittel gegen Vergessen funktionieren genauso wenig. Mit roter Tinte hatte er sehr aufmerksam ›Geburtstag von Doddeltje nicht vergessen‹ notiert, aber der Zettel kommt ihm erst am Tag nach ihrem Geburtstag wieder unter die Augen. So kann es nicht weitergehen. Mit seiner Vergesslichkeit hat er mehrere Menschen in seiner Umgebung tief gekränkt.
Joost grübelt beim Staubwischen: »Herr Olivier hat nun zwar meinen Lohn erhöht, wie er versprochen hatte, aber ich habe lange darauf drängen müssen. Und die Tatsache, dass er es vergessen hat, ist das Schlimmste. Irgendwie ist etwas Schönes in mir zerbrochen, wenn ich mich so ausdrücken darf. Ich wünschte, ich könnte das vergessen …«
Anmerkung
Auch Fräulein Doddel ist beleidigt, lässt sie Tom Poes wissen: »Er hat mich vergessen! Ich will nichts über ihn hören! Ich hasse ihn! Ich … ich will ihn vergessen. Ganz vergessen.«
Anmerkung
Der Zufall will, dass H. Pocus Pas, Magister der schwarzen Künste und selbst ernannter ›Kernmedicus‹, etwas erfunden hat, womit sich Menschen der Erinnerungen, die sie bedrücken, entledigen können. In seiner Praxis liegt ein Heft, das Vergessensbüchlein, in das sie aufschreiben dürfen, was sie vergessen wollen. Pocus streut aus einem Köcher etwas feinen Sand darüber, und weg ist die Erinnerung. Einer seiner ersten Kunden ist
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