Das Buch des Vergessens
Joost. Er meldet sich in der Hoffnung, vergessen zu können, dass Bommel ihn vergessen hatte, aber bei näherer Betrachtung gibt es noch mehr, was er vergessen will, etwa die beschämende Erinnerung an das eine Mal, als Herr Olivier ihn erwischte, wie er einen einfachen Landwein ineine Flasche mit einem alten Etikett umschüttete. Fräulein Doddel schreibt in das Vergessensbüchlein, wie Bommel sie vergessen hatte. Nach und nach kommen eine ganze Menge Einwohner von Rommeldam vorbei, um ihre Erinnerungen in das Vergessensbüchlein zu schreiben. Nur der Beamte Dorknoper – »der Staat vergisst nicht« – weigert sich, etwas hineinzuschreiben, er schreibt lieber in sein eigenes Notizbuch: »Ich habe hier ein Behaltensnotizbuch, wenn ich mir einen Scherz erlauben darf.«
Anmerkung
Die Technik scheint simpel: aufschreiben und Sand darüber. Aber die Wirkung ist stark: Als Fräulein Doddel auf dem Rückweg von ihrem Besuch bei Pocus von Bommel angesprochen wird, erkennt sie ihn nicht. Zugleich mit der Erinnerung an diese eine Beleidigung sind alle Erinnerungen an Bommel verschwunden. Und Joost ist durch die Behandlung so verwirrt, dass er nicht nur vergessen hat, was er vergessen wollte, sondern auch, dass er bei Pocus gewesen ist. Tom Poes macht sich große Sorgen, und auch Bommel mit seiner fein entwickelten Intuition spürt durchaus, dass daraus nichts Gutes entstehen kann. Er sucht Hilfe bei hoch angesehenen Mitbürgern im Kleinen Klub: »Wo soll das hinführen, wenn jeder einfach so ein Stück aus seinem Gedächtnis schneiden kann?« Aber er steht mit seiner Ansicht allein da. Der Bürgermeister hält ihn für einen Schwarzseher. »Das solltest du lieber vergessen. Es gibt eben Dinge, die eher ins Vergessensbüchlein gehören, sonst kann man nicht schlafen.«
Anmerkung
Und Marquis de Canteclaer ergänzt, Vergessen sei manchmal notwendig bei Herren untereinander.
Bommel belässt es nicht dabei. Gemeinsam mit Tom Poes geht er zur Praxis von Pocus. Während Bommel den Kernmedicus ablenkt, entdeckt Tom Poes auf dem Speicher, dass Pocus all den Sand, der über die Erinnerungen gestreut worden war, sorgfältig aufbewahrt hat, dort steht ein Schrank, in dem jede vergessene Erinnerung ihr eigenes Tütchen hat. Später stellt sich heraus, dass er die Tütchen in den Walmzander Stuifdünen ausschütten wollte, wo aller Hass, alle Lügen, Betrügereien und Kränkungen ewig herumspuken sollten. Nach vielen Verwicklungen, die darauf hinauslaufen, dass der Fluss des Vergessens über seine Ufer tritt und die Walmzander Stuifdünen überschwemmt, gelingt es Bommel und Tom Poes, alleszu einem guten Ende zu bringen. Bommel erklärt Fräulein Doddel, was geschehen ist, und obwohl sie nicht alles versteht – »vielleicht weil ich irgendwo eine leere Stelle in meinem Gedächtnis habe« –, nimmt sie freudig die Einladung zu einem Festmahl auf Bommelstein an.
Anmerkung
Bei der Vorbereitung des Festmahls gießt Joost wieder fröhlich billigen Wein in Burgunderflaschen, ein Augenzwinkern für den Eingeweihten.
Die Stimmung in Das Büchlein vom Vergessen ist spielerisch, nachsichtig und ironisch. Das Bedürfnis nach einer Vergessenstechnik entsteht durch Bommels Vergesslichkeit. Marten Toonder war 1976 vierundsechzig Jahre alt. Hat er selbst gemerkt, dass man nicht nur Namen vergisst, sondern durch diese Vergesslichkeit unbemerkt auch Menschen beleidigen kann? Wer je erlebte, von jemandem glatt vergessen zu werden – es war auf das Köstlichste gekocht, alles war für einen wunderbaren Abend vorbereitet und keiner kam –, weiß, dass dies eine unauslöschliche Erfahrung ist. Das Vergessen des einen kann sich beim anderen ins Gedächtnis einprägen. Viel Vergessenes im Alltag ist die Folge fehlenden Interesses und Unachtsamkeit. Diese Verknüpfung kann sich bei zunehmender Vergesslichkeit gegen einen wenden – wie es Bommel geschah. Was er vergaß, wurde als mangelnde Sorgfalt aufgefasst, fast als Charakterzug. Das Büchlein vom Vergessen ist eine Einladung, dies aus einem versöhnlicheren Blickwinkel zu betrachten. Joost und Fräulein Doddel hätten Bommels Vergesslichkeit nicht so persönlich nehmen sollen.
Vielleicht ist zwischen den Zeilen auch zu lesen, dass das Vergessen in ›Vergeben und Vergessen‹ nicht wirklich vergessen ist, weder in der Geschichte noch in der Realität des menschlichen Gedächtnisses. Kernmedicus Pocus lädt die Leute zwar ein, in sein Vergessensbüchlein zu schreiben, sagt großzügig: Sand drüber!,
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