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Das Buch des Vergessens

Das Buch des Vergessens

Titel: Das Buch des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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dreiundneunzig Jahre alt.

    In den letzten vier, fünf Jahren seines Lebens hat er noch verschiedentlich Interviews gegeben und Texte verfasst. Jeder habe ein inneres Lebensalter, das das ganze Leben lang gleich bleibe, erklärte er. Er sei noch immer zwanzig, trotz seiner zweiundneunzig Lebensjahre.
Anmerkung
Aber dieser Zwanzigjährige lebte in der wenig passenden Behausung eines kränkelnden Körpers: »Das Skelett taugt nichts mehr. Ein schweres Schicksal. Ich finde nichts daran. Ich sehe auch nicht den Nutzen. Ich hasse es.«
Anmerkung
Aber mehr noch als durch den körperlichen Verfall schien er von seinem Gedächtnis geplagt zu werden. Immer wieder kommt er darauf zurück, wie sehr ihn sein Gedächtnis im Stich zu lassen beginnt und wie manche Erinnerungen, von denen er Trost erwartet hatte, ihn jetzt bedrücken. Seine Reflexionen, manchmal nicht mehr als Stichworte, ergeben erneut eine Philosophie des Vergessens, aber jetzt von einem Menschen, der weiß, dass er seine letzten Jahre erreicht hat, und verbittert feststellen muss, dass sich sein eigenes Gedächtnis gegen ihn gewandt hat. Diese Betrachtungen haben jegliche Verspieltheit verloren. Was in Das Büchlein vom Vergessen noch witzig war, Bommels Vergesslichkeit, ist nun zum Fluch geworden. »Namen behalte ich sehr schlecht. Das sind die Vergesslichkeiten, die als erste auftreten. Und das ist fürchterlich. Fürchterlich. Denn manchmal weiß ich nicht einmal mehr, wie mein Enkelkind heißt.«
Anmerkung
Andere Erinnerungen werden unangenehm deutlich: »Manchmal denke ich, die Toten sind vage Schatten geworden. Aber eines Tages stehen sie wieder springlebendig vor einem. Unerwartet.«
Anmerkung
Er hatte sein Gedächtnis nicht mehr im Griff. Unerwartet öffneten sich Türen, die er nicht selbst aufgemacht hatte: »Mir nichts, dir nichts stehen einem auf einmal verschwommene Figuren vor der Nase.«
Anmerkung
Im Alter bekam das Gedächtnis immer mehr Ähnlichkeit mit dem ›Behaltensbüchlein‹ von Dorknoper. Das war längst nicht mehr das Gedächtnis, über das er als Mittsechziger mild und relativierend philosophiert hatte, dafür fehlte die Distanz. Das Gedächtnis begann zu meutern.
    Beim Lesen der Interviews wird deutlich, dass Erinnerungen für Toonder mehr waren als ein persönlicher innerer Besitz. Er war jemand, der schöne Erfahrungen nur genießen konnte, wenn er siemit seinen Lieben teilen konnte; was er allein erlebte, ließ ihn unberührt und verschwand wieder aus seinem Gedächtnis. Häufig waren es die ihm am nächsten Stehenden, die ihn auf die Schönheit einer Erfahrung hinwiesen, und es war, als würden diese erst dadurch zur Erinnerung. Viele seine schönsten Erinnerungen, schrieb Toonder in einem Beitrag zu Het boek van de schoonheid en de troost (Das Buch von der Schönheit und dem Trost) von Wim Kayzer, hatten ihre Bedeutung erst durch Phiny bekommen. Er erinnerte sich an einen Sommernachmittag mit ihr am Ufer einer irischen Bucht.
    Es war Flut, und das hereinströmende Wasser plätscherte leise ans Ufer, während die Sonne es mit funkelnden Lichtpünktchen versah.
    »Diamanten«, sagte sie, und damit ist das Bild tief in mein Gedächtnis gesunken.
    Ohne Erinnerungen gibt es keine Schönheit; denn wenn ich etwas Wunderbares gesehen habe, brauche ich jemanden, der mir sagt, wie schön es eigentlich ist. Und wenn ich die Worte finden kann, will ich sie einem anderen gegenüber äußern können. Durch das Glücksgefühl, das die geteilte Emotion vermittelt, entsteht die Erinnerung. Aber wenn dieser andere nicht mehr da ist, fehlt diese Emotion – und das verursacht ein trauriges Gefühl, denn dadurch ist der Zugang zum Schönen verriegelt.
Anmerkung
    Er bringt es immer wieder zur Sprache. Die schönsten Erinnerungen sind die geteilten, und gerade diese fühlen sich wie eine Last an, weil derjenige, mit dem er sie teilte, nicht mehr da ist. Sie verweisen auf den Verlust. Als er in seiner Autobiografie auf die dunkelste Zeit in seinem Leben zurückschaut, die erste Zeit nach dem Tod Phinys, fällt ihm ein Satz aus der Beileidskarte einer guten Freundin ein: »Ihr habt zusammen ein so langes und reiches Leben gehabt. Zähle die goldenen Perlen in der Halskette deiner Erinnerungen, dann bist du nie allein.« Es ist ein Satz, wie man ihn in allerlei Varianten in Kondolenzbriefen findet. Aber Marten Toonder fühlt sich durch schöne Erinnerungen nur umso einsamer: »Diesen Trost hatte ichdamals bitter zur Seite gelegt, weil die schönen

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